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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Autoren: Milena Moser
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schon wieder, hörte Poppy.
     
Marie
     
    Ich bin eine Fälschung, dachte Marie. Ich führe ein Doppelleben.
    «Warum gehst du nicht nach Hause?», fragte Nevada. Sie lallte wie eine Betrunkene. Im Fallen hatte sie sich auf die Zunge gebissen. Marie hatte ihren Mund ausgewaschen und mit Küchenpapier trockengetupft. Der Spalt in der Zunge war tief, aber zu schmal, um genäht zu werden. Marie hatte sofort gesehen, dass eine Notaufnahme nicht nötig war. Trotzdem hatte sie Nevada in ihr Auto gepackt und zum Kantonsspital gefahren. Der Feierabendverkehr, das Warten in der chronisch unterbesetzten Station würden den Rest des Abends ausfüllen. Sie würde spät nach Hause kommen. Die Schlafzimmertür würde geschlossen sein.
    «Ich will gar nicht nach Hause», sagte Marie.
    «Ach ja?»
    Hatte sie das tatsächlich ausgesprochen? Beschämt zuckte sie mit den Schultern.
    «Ich dachte, du seist die glücklichste Frau der Schweiz?» Nevada hielt eine fast zwei Jahre alte Zeitschrift hoch. Darin wurde über die Hochzeit des beliebtesten Serienarztes der Schweiz mit einer echten Ärztin berichtet: mit Marie.
    Marie nahm das Heft in die Hand und betrachtete die bekannten Bilder: das gemietete Sofa, das ihre fast unmöblierte Absteige in der Altstadt als Zuhause erkennbar machte. Sie hatten die Schuhe ausziehen, die Beine anwinkeln müssen. Der Leser, so erklärte man ihnen, solle das Gefühl haben, unangekündigt in ihre Stube geplatzt zu sein und sie so vorgefunden zu haben: in traulicher Umarmung und in löcherigen Socken, auf einem viel zu großen grauen Sofa, das mit vielen bunten Kissen dekoriert war. Marie hatte nicht gewusst, wie viel Vorbereitung, wie viel Planung – Hinterhalt eigentlich – in so einem Schnappschuss steckte. In der Zeit, in der sie posierten, hätte sie einen Blinddarm entfernen können. Sie schaute ihn an, er schaute in die Kamera, auf dem Holzboden vor dem Sofa stapelten sich medizinische Fachbücher und zuoberst lag einsatzbereit ihr Stethoskop. Seine Tochter Stefanie hatte sich geweigert, mit ihnen zu posieren. Und in den Leserbriefen wurde gefragt, warum der gutaussehende Schauspieler mit dem charmanten Bündner Dialekt seine Frau und seine Tochter für so eine verlassen hatte. Es gab doch bestimmt Schönere. Schlankere sowieso.
    Gion spielte Dr. Marc Santana in der Fernsehserie Das Vorstadtspital . Seine Rolle, die eines aus dem Kosovo eingewanderten und gegen allerhand Vorurteile ankämpfenden glutäugigen Notarztes, hatte die serbelnde Seifenoper vorübergehend wieder ins Zuschauerbewusstsein geschoben. Doch in den letzten Monaten waren die Zuschauerzahlen wieder gesunken, und die Serie war abgesetzt worden. Da die letzten Folgen noch liefen, musste über diesen Umstand strengstes Stillschweigen bewahrt werden. Dieses Geheimhalten, dieses So-tun-als-ob, erinnerte Marie an die erste Zeit ihrer Liebe. Damals hatte sie es aufregend gefunden. Heute nur noch anstrengend.
    Er hatte sie ein paar Tage lang durch ihren Alltag in der Notaufnahme begleitet, um sich auf seine Rolle vorzubereiten. Marie hatte sich sofort in ihn verliebt, doch sie hatte sich nichts anmerken lassen. Sie war nicht die Frau, die den Mann bekam. Sie war die beste Freundin, die Trauzeugin, der Kumpel zum Pferdestehlen. Die, mit der man über alles reden konnte. Marie war die, die man mitten in der Nacht anrufen konnte, wenn man verzweifelt war, betrunken, allein. Marie hatte Gion mit den Schwestern flirten sehen, den Raumpflegerinnen, Patientinnen, sie hatte ihn ignoriert. Als er sie zum Kaffee einlud, dachte sie, er erlaube sich einen Scherz mit ihr. Sie schaute erst über ihre Schulter, bevor sie antwortete, doch da war niemand. Er meinte sie.
    Vielleicht hatte er eine Wette verloren?
    Gion war verheiratet gewesen, als sie sich kennenlernten. «Meine Ehe ist schon lange kaputt, uns verbindet nichts mehr, wir bleiben nur wegen unserer Tochter zusammen …»
    Ob er das heute zu einer anderen Frau sagte? Wie schrecklich, hatte sie damals gedacht. Wie kann man es nur so weit kommen lassen. Würdelos war das.
    «Eine Frau wie dich …», hatte er gesagt. «Eine Frau wie dich habe ich noch nie getroffen.» Das hatte noch niemand zu ihr gesagt: Eine Frau wie Marie hatte jeder schon getroffen. Marie war nichts Besonderes. Gion dachte anders: Er behandelte sie wie eine Hauptdarstellerin. Er umwarb sie. Er brauchte sie.
    Seine Frau, sagte er, seine Frau war schwach. Seine Frau stützte sich auf ihn. Forderte ständig. Immer musste Gion
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