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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Autoren: Milena Moser
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für sie da sein. Und wer war für Gion da? Marie.
    Marie war stark. Marie konnte Leben retten, fremde, ihr eigenes, Gions. Gion zog bei ihr ein, noch bevor seine Recherchen abgeschlossen waren. Bevor die neue Staffel mit Dr. Santana anlief, riet Gions Agentin zur PR-Offensive. Sie bestellte Marie zu einem Treffen, begutachtete sie wie ein Möbelstück, von dem sie noch nicht wusste, ob sie es zum Sperrmüll stellen oder behalten sollte, und sagte schließlich: «Ärztin. Okay. Krankenschwester wäre besser, aber gut. Ärztin. Damit kann ich arbeiten.»
    Und daraus war dann die Homestory geworden, die Marie jetzt in den Händen hielt. Damals war sie die glücklichste Frau der Schweiz gewesen. Damals hatte sie nicht schnell genug nach Hause kommen können. War nach sechsunddreißig Stunden Dienst noch mit dem Taxi zum Fernsehstudio gefahren, um ihn zu sehen, zwischen Stellwänden aus Sperrholz zu küssen.
    Heute zögerte sie den Moment, in dem sie die Tür aufschloss, so lange wie möglich hinaus. Sie parkte an der Ecke, schlich sich an wie eine Diebin, sah zu den kleinen Fenstern hinauf, und hoffte, sie wären nicht erleuchtet. Hoffte, er wäre nicht zu Hause. Seit die Serie abgesetzt worden war, war er immer zu Hause. Gion war seit drei Monaten arbeitslos, und er schien Marie die Schuld daran zu geben.
    Ich führe ein Doppelleben, dachte Marie. Ich bin zu Hause eine andere als in der Welt. Sie kam nach Hause und wurde einen Kopf kleiner. Sie nahm ihren Kopf ab und legte ihn in die Schale auf dem Tisch beim Eingang, zusammen mit ihren Schlüsseln. Sie betrat ihre Wohnung und hörte auf zu existieren. Sie war nicht mehr Dr. Marie Leibundgut, die kompetente Ärztin, sie war ein nutzloser Haufen Frau, der alles falsch machte. Und ihr Hintern war auch zu dick. Erst wenn sie nach Hause kam, fühlte sie sein Gewicht. Unter dem weißen Mantel, den sie zur Arbeit trug, schwang er königlich bei jedem Schritt mit. Er verankerte sie. Er verlieh ihr Substanz. Marie liebte ihren Hintern.
    «Ich schau mal nach, wo der Bericht bleibt.» Marie stand auf. Als Oberärztin auf der Intensivstation war sie im Turnus auch für die Notaufnahme zuständig. Hier kannte man sie. Auch wenn sie keinen weißen Mantel trug, traten Schwestern und Patienten respektvoll zur Seite. Sie ging in der Mitte des Flurs, sie schaute nach vorn, weit nach vorn. Als sähe sie direkt in die Zukunft, und in der Zukunft nur gelöste Probleme, geheilte Patienten. Vor dem Aufnahmeschalter stand ein schlaksiger Assistenzarzt in zerknittertem Kittel. Er hatte seinen langen Körper unnatürlich gebeugt, um durch das Schiebefenster mit der Aufnahmeschwester flirten zu können. Diese sah Marie zuerst und knipste sofort ihr Lächeln aus. Der junge Mann drehte sich um.
    Seine Brille war fleckig, die Augen dahinter müde. «Frau Doktor Leibundgut, ich wollte gerade Ihre Patientin …» Nervös schaute er auf die Akte, auf der außer den Angaben zur Versicherung nicht viel stand.
    «Herr Kollega!» Marie nickte ihm zu. Sie konnte sehen, wie er sein müdes Hirn durchforschte. Sie erinnerte sich sehr gut an diese Angst während der Assistenzzeit, die ständige Angst, etwas übersehen, etwas falsch entschieden zu haben, vor den drastischen Konsequenzen. Damals war ihr bewusst geworden, dass sie Leben in der Hand hielt. Ein als Magendarmgrippe diagnostizierter Blinddarm konnte platzen. Eine Schmerztablette einen Hirntumor vertuschen. Als Assistenzärztin hatte sie den Tod gesehen, er drang aus allen Ritzen wie schwarzer Nebel, er waberte unter den Türen hindurch, er blähte die dünnen Vorhänge, die die Betten in der Notaufnahme voneinander trennten. Sie wedelte mit ihren Patientenakten, mit den Seiten ihrer Lehrbücher, mit Fachartikeln, mit den Schößen ihres weißen Mantels. Aber der Nebel wich nicht. Er war immer da. Es war ihre persönliche Mission, den Tod in Schach zu halten. Zu verhindern, dass er sich im Krankenhaus ausbreitete.
    Es hatte Monate gedauert, bis sie wieder eine blutende Nase sehen konnte, ohne gleich das Schlimmste zu vermuten. Bis sie wieder das gesehen hatte, was vor ihr lag: das Leben. Das Leben mit einer Krankheit, mit einer Verletzung, mit Schmerzen. Bis sie wusste, was ihre Aufgabe war: nicht den Tod bezwingen, sondern am Leben arbeiten. Dann hatte sie auf die Intensivstation gewechselt, und alles war wieder da. Marie dachte wieder nur das Schlimmste.
    Warum knickten einer gesunden jungen Frau, einer Yogalehrerin obendrein, die Handgelenke ein?
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