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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Autoren: Milena Moser
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berührten. Natürlich sollte sie sich nicht mit den anderen vergleichen. Und schon gar nicht, wenn sie auf dem Rücken lag und die Füße hinter ihrem Kopf abgestellt hatte. Ihr Nacken hatte die leichte Drehung mit einem Knacken quittiert, danach hatte sie tagelang Schmerzen gelitten. Und Angst. Angst, dass ihr Kopf abfallen würde.
    Das hatte ihre Mutter früher auch immer gesagt: «Wenn dein Kopf nicht angeschraubt wäre!» Poppy fasste sich dann unwillkürlich an den Nacken, als könnte sie die Schrauben fühlen. Als müsste sie sich vergewissern, dass es wirklich so war.
    Poppys Mutter seufzte. Gerade hatte sie Poppy gebeten, den Tisch abzuräumen, das Mädchen hatte artig genickt und war dann, keine drei Sekunden später, mit leeren Händen in die Küche gegangen. Dort war Poppy einen Augenblick stehen geblieben, hatte sich gefragt, was sie hier wollte, hatte den Kühlschrank geöffnet, die Milchflasche herausgeholt und auf den Küchentisch gestellt. Jetzt fehlte ihr noch ein Glas. Auf dem Abtropfbrett neben der Spüle standen die Gläser in einer Reihe, mit der Öffnung nach unten, auf dem weichen, geriffelten Plastikuntersatz. Immer bestand ihre Mutter darauf, dass Poppy die Gläser sofort abtrocknete und wegräumte, und dann tat sie es selber nicht! Ungerecht, dachte Poppy, nahm sich ein Glas und wischte den noch feuchten Rand am Latz ihres Manchesterrocks ab. Der, das stellte sie gleich fest, überhaupt nicht saugfähig war. Sie füllte das Glas mit Wasser und nahm es mit in ihr Zimmer.
    «Pooopppeee!», schrie ihre Mutter aus dem Esszimmer.
    Poppy hieß eigentlich Annamarie, aber ihre Mutter, die aus Graubünden stammte, nannte sie Poppeia, oder Poppe – Mädchen. Später, in Amerika, war Poppy daraus geworden. Sie wusste nicht mehr, wie der Mann hieß, der ihren Namen so abgewandelt hatte, nur noch, was er gesagt hatte: «Du bist wie eine Mohnblume, berauschend und vergänglich …»
    Mohnblumen waren außerdem dünnhäutig, unbeständig, wurden in alle Winde zerstreut. Ein Lufthauch knickte sie, ein Regentropfen köpfte sie. Poppy fand, der Name passe zu ihr.
    «Pooopppeee!», schrie ihre Mutter, und Poppy drehte sich um – was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht? Sie sah an sich herunter, Wassertropfen auf dem Manchesterlatz, die Socken verrutscht – was hatte sie getan?
    Da fiel es ihr wieder ein: den Tisch abräumen! Das Geschirr abwaschen!
    «Tut mir leid!», rief sie, stellte das Wasserglas auf das Fensterbrett im Flur und ging schnell zurück ins Esszimmer.
    «Wenn dein Kopf nicht angeschraubt wäre …»
    Poppy räumte das Geschirr ab. Sie kratzte die Essensreste von den Tellern und kippte sie in den Abfalleimer. Sie ließ Toro, den Hund, die Teller ablecken. Dann stapelte sie die Teller in ein Plastikbecken und ließ heißes Wasser darüberlaufen. Ein, zwei, drei Spritzer Abwaschmittel dazu, es schäumte. Schneeberge.
    Direkt über dem Wasserhahn hing eine Postkarte vom Silsersee. Poppy stellte sich vor, wie ihre Mutter hier stand, das Geschirr abwusch, dabei auf die Postkarte schaute und sich wünschte, sie wäre zu Hause in den Bündner Bergen. Poppy mochte die Berge nicht. Jeden Winter, jeden Sommer verbrachten sie dort, ihre Mutter und sie, bei der weitverzweigten Verwandtschaft. Ihre Cousins und Cousinen waren sportlich, praktisch, rotwangig. Sie wussten, wie man Kühe zusammentrieb, von einem Felsen in den eiskalten See sprang, wie man, bevor man am Ende des Skilifts angelangt war, elegant aus der Spur schwang. Unter den Cousinen fühlte sich Poppy noch ungenügender als zu Hause. Auch weil die Tanten sie oft mit gerunzelter Stirn musterten, wenn sie mit dem Knie gegen den Tisch stieß und ihre Milch verschüttete, wenn sie das Tor zum Hasenkäfig nach dem Füttern nicht geschlossen hatte. Mit der Taschenlampe hatte sie nachts im Garten die riesigen Viecher gesucht, aber nur einen von den vieren wieder einfangen können. Sie hatte für die Hasen bezahlen müssen. Mit ihrem Taschengeld.
    «Du bist eine Träumerin», sagte die Großmutter. «Das hast du nicht gestohlen!» Poppys Mutter war nicht wie die Tanten, wie die anderen Frauen im Dorf. Sie war weggelaufen, durchgebrannt mit einem Unterländer, einem Flachländer, Poppys Vater. Trotzdem kam sie jeden Sommer und jeden Winter zurück in ihr Dorf. Und Poppy musste mit.
    «Kannst du nicht aufpassen?» Die Stimme ihrer Mutter holte sie zurück in die Küche, ans Abwaschbecken, aus dem der Schaum quoll, viel zu viel Schaum. Wasser
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