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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
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Eltern zurück. Ich entsinne mich gut an diesen Augenblick, weil mir zum ersten Mal auffiel, dass die Leute mich beobachteten und lachten. Mich störte das zwar nicht, aber meinen Eltern war die Sache peinlich. Im Flugzeug war für Tomaso kein Platz reserviert, aber ich sagte liebenswürdig, das mache nichts, und ich würde ihn auf den Schoß nehmen. Ich wollte für ihn einen Orangensaft haben, die belustigte Stewardess brachte mir zwei Plastikbecher, Mutter sah weg, während Vater zum ersten Mal Unmut zeigte.
    »Alessa, benimm dich gefälligst anständig.«
    Wir beide – Tomaso und ich – waren verblüfft und gekränkt. Warum schimpfte er jetzt mit uns, wo er doch zu Hause nie etwas sagte? Doch zwischen den Eltern und mir musste irgendetwas aufgeplatzt sein, aufgeplatzt wie ein vergessener Abszess. Am nächsten Tag im Jardin du Luxembourg, als Vater eine Zeitung holen ging, sah Mutter mit zunehmender Gereiztheit zu, wie ich mit Tomaso mein Eis teilte, und sagte plötzlich:
    »Schluss jetzt, Alessa! Und, hör mal, du bist jetzt alt genug, dass ich es dir sage: Du hattest wirklich einen Bruder!«
    Ich sah erschrocken zu ihr auf. In meinem Geist gingen unklare Dinge vor, die sonderbar und beunruhigend waren.
    »Tomaso?«, fragte ich.
    Sie schüttelte irritiert den Kopf.
    »Er hatte keinen Namen. Er wurde tot geboren.«
    Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in einer Art Vakuum befand, in einer Luftblase.
    »Tot?«, murmelte ich.
    Sie presste die Lippen zusammen.
    »Er wäre dein Zwillingsbruder geworden, aber aus irgendeinem Grund hatte er keine Kraft, in mir zu wachsen. Und im Ultraschall war er nicht sichtbar, weil er …« – sie schluckte – »… dicht hinter dir, an deiner Wirbelsäule klebte. Aber er wurde nie ein voll ausgebildetes Baby. Und als du geboren
wurdest, sagte plötzlich der Arzt: ›Da ist ja noch ein Baby!‹ Er leitete die Geburt ein, und es ging eigentlich ganz schnell. Das Kind kam einige Minuten später zur Welt. Es war winzig klein, ich hätte es in beiden Händen halten können. Und es war eindeutig ein kleiner Junge.«
    Sie stockte, holte tief Atem. Ihr Gesicht im Sonnenlicht war rot und verzerrt. »Aber es stimmt schon, dass ihr beide eine Zeit lang in mir gelebt habt. Dein Vater und ich nehmen an, dass du dich unbewusst erinnerst. Und solange du klein warst, wollten wir es dir nicht sagen und haben dir auch niemals Vorwürfe gemacht. Aber jetzt wird es Zeit, dass du weißt, warum du dir einen Bruder erfunden hast.«
    Jeder Mensch ist ein Kosmos, und das Unbewusste ist der größte Teil von ihm. Mutter hatte versucht, mir mit kindgerechten Worten etwas sehr Kompliziertes zu erklären, etwas, das, wie ich später vermutete, sie selbst nicht im vollen Umfang verstand. Ich hatte meinen Zwillingsbruder nur in der Berührung im Mutterleib erlebt, eine Begegnung wie die Vorwegnahme eines Todeserlebnisses. Mein Bruder war nie zu einem für mich sichtbaren Wesen geworden, bewohnte jedoch meine Seele. Dem Verlust dieses Elementarwesens war ich nicht gewachsen gewesen. Erst nachdem ich von Mutter die Wahrheit erfahren hatte, konnte ich über mein Verhalten nachdenken und eine neue Stufe meines kindlichen Bewusstseins erreichen. Ja, es war eine besondere Geschichte. Und eine alte Geschichte. Ich lebte mit einem Phantom in einer Welt, die nicht natürlich war. Vermutlich war ich seelisch sehr stark, sodass es mir schließlich gelang, mich von diesem Phantom zu trennen. Nicht sofort natürlich, nicht auf einmal, sondern nach und nach. Mein Bruder existierte nicht wirklich, aber er hatte mal existiert. Ein Teil seines Blutes pulsierte in mir. Er gehörte zu meinem unmittelbaren, tiefsten Ursprung, es war die gleiche Materie, die uns beide erschaffen hatte. Und man weiß ja, dass Zwillinge im Mutterleib schon eine Symbiose
entwickeln. Das war eine Sache, die selbst ein kleines Mädchen verstehen konnte. Und so befreite ich mich von Tomaso, indem ich im Geist eine Einheit mit ihm wurde und nie mehr ein Phantomkind an der Hand führte.

    Wie war es damals gewesen, als Ingrid – noch ohne es zu wissen – Zwillinge trug? Sie wurde neunundzwanzig. Noch jung, aber nicht mehr die Jüngste. Noch strahlend, noch schön, aber bei Regen schmerzte ihr Fußgelenk, und auf Malta schien immer die Sonne. Ein Kind, ja, warum nicht? Eine Pause, dachte Ingrid, ich mache jetzt eine Pause. Also ging sie mit Geoffrey nach Valletta, lernte ihre Schwiegereltern kennen, die traditionell und bigott waren. Ingrid wurde
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