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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
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Fachkreisen bekannt und für ihren Drill berüchtigt. Allerdings erreichten die jungen Talente, die sie unter ihre Fuchtel nahm, ein hohes Niveau. Von Ingrid verlangte sie das Äußerste, und Ingrid machte mit, und zwar so gut, dass Paula sie für einen Wettbewerb für junge Tänzer anmeldete, der alljährlich in der Schweiz stattfand, in Lausanne. Geschäftsleute, Filmschaffende, Sportler und Künstler durften »ausreisen«: Sie wurden ja bevorzugt behandelt, und man ging davon aus, dass sie gerne in das Land »hinter der Mauer« zurückkehrten.
Paula hatte bereits zwei Schülerinnen im Halbfinale gehabt und setzte große Hoffnungen in Ingrid, die mit fast achtzehn Jahren die oberste Altersgrenze erreichte. »Jetzt oder nie!«, entschied Paula.
    In jenem Jahr hatten sich hundertundvierzig Kandidaten aus der ganzen Welt angemeldet. Und nur fünfzehn Auszeichnungen waren zu vergeben. Ingrid beherrschte ihr Tanzalphabet von A bis Z. Und sie blieb auch nicht auf der Strecke, sondern wurde Finalistin. Sie bekam vor Aufregung Schweißausbrüche, ihr hellblauer Polyesterdress war voller dunkler Flecken, bis ihr Name aufgerufen wurde und sie endlich Gewissheit hatte. Danach legte sie sich eine Strategie zurecht. Das Finale wurde jedes Jahr in einer anderen Stadt ausgetragen, diesmal in London. Gewann Ingrid einen »Profipreis« oder gar den Hauptpreis – die Goldmedaille –, würde sie sofort eine Karriere starten können. Paula triumphierte: Sie hatte im Sinn, ihren frischgebackenen Star beim Bolschoi unterzubringen. Ingrid war goldblond, hellhäutig, wohlgeformt, eine Märchenprinzessin. Klassische Rollen waren ihr wie auf den Leib geschrieben. Sie hatte aber auch etwas Wildes, Verwegenes an sich, von dem sie selbst nichts ahnte. Trat sie auf die Bühne, hielt das Publikum den Atem an.
    Es kam, wie es kommen musste: Ingrid erhielt einen der begehrten »Profipreise«, verbeugte sich, zauberhaft lächelnd, im Licht der Scheinwerfer. Sie nahm ihren Preis in Empfang und genoss den Applaus, bis der Vorhang fiel. Hinter den Kulissen ließ sie sich von Paula beglückwünschen und umarmen, ging, um sich für das Galadiner zurechtzumachen … und wurde nicht mehr gesehen. Später überreichte eine Tänzerin Paula einen hastig hingekritzelten Zettel. Ingrid bedankte sich für die Ausbildung und wünschte ihrer Lehrerin alles Gute. Sie selbst wollte, wie sie schrieb, ihren eigenen Weg suchen.

    Wie sie später erzählte, verbrachte sie viel Zeit in verschiedenen Pubs, wo sie Schwarztee trank und jede Zudringlichkeit abwies. Vor der Abreise hatten ihr die Eltern gesagt: »Wenn du gehen willst, nutze die Gelegenheit!« Sie hatten ihr auch gesagt, was sie zu tun hatte. Ingrid beantragte und erhielt politisches Asyl. Die Story machte Schlagzeilen, ihr Bild erschien in den Zeitungen und Zeitschriften. Ingrid wurde beim Sadler’s Wells aufgenommen, wo sie in Solorollen auftrat, bevor sie – ein paar Jahre später – das Ensemble wechselte. Sie tanzte auf den großen Bühnen dieser Welt, lernte die Städte ihrer Träume kennen: Paris, New York, Sydney, Madrid, Tokio. Wieder in London, traf sie Geoffrey Zammit, einen drei Jahre jüngeren Malteser, der mit wenig Überzeugung Rechtswissenschaft studierte. Es war Liebe auf den ersten Blick, und eine Zeit lang genossen beide das Leben in vollen Zügen.
    Als Teenager wollte ich natürlich wissen, wie meine Eltern sich kennengelernt hatten. Mutter redete wenig darüber, tat immer so, als ob mich das Ganze nichts anging.
    »Das habe ich dir doch längst gesagt. Wir hatten einen Workshop auf dem Campus gegeben, und abends wurde gefeiert.«
    Merkwürdig, dass ihr Gesicht so ohne Konturen war, wie verwischt. Kein Ausdruck mehr, als ob sie versuchte, unsichtbar zu bleiben. Unsichtbar in der eigenen Vergangenheit. Mich ärgerte das. Ich hatte oft Fragen gestellt, wollte mehr über Vater und sie wissen, persönliche Dinge, ja, sogar intime. Ob Vater damals gut ausgesehen hatte? Warum sie sich denn in ihn verliebt habe? Mutter war mir stets ausgewichen, mit einer Art stiller Gerissenheit.
    »Ach, die Malteser sind ein schöner Menschenschlag.«
    Mit zunehmendem Alter war Vater füllig geworden. Er hatte starke Knochen, runde Glieder und breite Hüften. Seine Stirn war hoch und kahl, in der Mitte leicht abgeflacht. Ein Kranz bereits grauer Locken fiel von den Ohren rings auf seinen schweren Nacken. Er hatte große Pupillen, mit einer sehr
dunklen Farbe der Iris. Er sprach mit weicher, ernster Stimme,
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