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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin
Autoren: Frederica de Cesco
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sich ihr Lachen und ihre vertrauten Stimmen in das Kreischen der Möwen, in das aufgeregte Flattern der Seeschwalben. Die Kinder schubsten sich gegenseitig ins Wasser, spielten ausgelassen im vollen Licht, während ich im Schatten stand. Ich stellte mir vor, wie ich meine Sandalen von den Füßen schleuderte, über hartes Gestein sprang und rutschte. Der Strand fiel steil ab, ich rannte immer schneller, spürte kaum etwas von Kälte, als prickelnder Schaum mich umfasste. Und schon kamen, überglitzert von Wassertropfen, die Kinder. Halb schwimmend, halb watend, ergriffen sie glückselig lachend meine Hände und zogen mich in ihr magisches Spiel.

1. Kapitel
    Ü ber Zeit im Allgemeinen können wir uns gut hinwegsetzen. Allerdings nicht immer. Die Mehrzahl der Menschen kennt von den Tagen nichts anderes als den Wechsel zwischen Aufgaben und Vergnügen, so vergeht ihr Leben, dem Pendelschlag einer Uhr ähnlich. Je älter wir werden, desto schneller scheint das Pendel zu schwingen. Das stimmt natürlich nicht, denn Minuten und Stunden sind die gleichen geblieben. Wir sind es, die einen anderen Takt spüren. Auch für mich sind diese Zeitfragmente immer da, unerbittlich, unerschütterlich, egal, ob ich sie wahrnehme oder nicht. Es sind diese Zeitfragmente, die mich fortgetragen haben. Fort von jener goldenen Zeit zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, die uns – wie mir heute scheint – auf unerträglich brutale Weise entzogen wurde. Einst bewegten wir uns in Küstenwäldern und Erdtiefen wie in einem magischen Raum, gefeit gegen jede Gefahr. Wunderbar hatten wir uns in diese wilde Landschaft eingefügt, waren ein Teil von ihr gewesen, unschuldig und gleichsam mit Wissen begabt, wie Kinder es eben sind. Die Veränderung kam plötzlicher, als wir es für möglich gehalten hatten, und sie war ungeheuer. Die Wirklichkeit holte uns ein, zerrte uns aus dem Paradies der Kindheit ins Unbekannte. Giovanni ging als Erster. Peter blickte ihm erschrocken nach, sein Herz war noch wie in Tücher eingewickelt. Und Viviane hatte ihre Welt, in der sie versinken konnte, wie eine Nixe auf dem Meeresgrund. Ich aber hatte von Giovanni gelernt, wie verwirrend die Wirklichkeit
sein konnte, wie grausam und wie gefährlich. Vieles von dem, das uns gegeben wurde, war dabei verloren gegangen. Mit den Eltern war ich früher ganz gut zurechtgekommen. Jetzt war etwas Hartes, etwas wie ein Groll zwischen uns. Ich merkte es, als ich Mutter zum ersten Mal nach der Tragödie im Theater besuchte, und musste damit erst ins Reine kommen. Ich wusste, dass sie mich als ein unberechenbares – oder vielmehr gefährliches – Wesen betrachtete, bei dem man auf alles gefasst sein musste. Ich hatte die Familie ins Gerede gebracht. Vaters politische Laufbahn konnte Schaden nehmen. Das alte Lied. Auf Malta hatte bürgerliche Scheinheiligkeit noch Hochkonjunktur. Hätte ich dazu noch meinen Job verloren, wäre niemand übermäßig erstaunt gewesen. Aber Adriana hatte mich schon wissen lassen, dass sie mich auf keinen Fall entbehren wollte. Ein Trost immerhin, wenn auch nur für das Ego.
    »Wie geht es dir?«, murmelte Mutter.
    Sie nähte die Kostüme für eine Neuinszenierung der Traviata .
    »Es geht schon.«
    Eine Zeit lang hatten Peter und ich niemanden sehen wollen. Wir fühlten uns müde und schlapp, der Schock saß uns noch allzu tief in den Knochen. Jetzt war der Herbst vorbei, die Bäume im Wind vertrocknet. Auch Peter und ich waren gefangen im Kreislauf der Zeit, fühlten uns an einem Tag noch kräftig, am nächsten abgestumpft und zerbrochen. Die Bäume waren fremde Materie, fremde Substanz. Doch die Bäume lebten, und im Frühling trugen sie Grün. Wir begannen, uns wohler und befreiter zu fühlen. Und Peter hatte immerhin sein Examen bestanden, wenn auch mit schlechten Noten – in Anbetracht der Situation eine beachtliche Leistung. Wir wussten, dass es uns schwerfallen würde zu vergessen, was vorgefallen war. Und obwohl die Erinnerung Schatten auf unsere Zukunft warf, verhinderte ein hohes Maß an Vertrauen und
Ehrlichkeit uns selbst gegenüber, dass wir ihr sogar die Hoffnung opferten. Doch nie wieder würden wir so unbekümmert sein wie zuvor.
    Mutter nickte mir zu.
    »Setz dich doch.« Ich nahm einen Stapel alter Modezeitschriften von einem Stuhl und setzte mich. Ich hatte das Bedürfnis zu reden. Mutter war umgeben von Stoffballen in schönen Edelsteinfarben, Goldgelb, Korallenrot, Violett, alles wertloses Zeug, das sie bei einem Trödler
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