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Mondgeschöpfe (Phobos)

Mondgeschöpfe (Phobos)

Titel: Mondgeschöpfe (Phobos)
Autoren: Michael Schuck
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Leben lang wissen, dass wir sterben müssen?
    Nun sprach Hannah Kennedy (Marias Amme) so schmerzerfüllt, so mitfühlend, und ihre dunkle Stimme klang so traurig:
    "Ganz andere Schrecken waren’s,
    die meine Lady ängstigten.
    Nicht vor dem Tod,
    vor dem Befreier zitterte Maria..."
    (Friedrich Schiller, Maria Stuart, 5. Aufzug, 1. Auftritt)
    "Herrlich!", durchfuhr es Yason, und er drückte sich enger an die hohe Säule. Diese Schmerzerfüllung der guten Amme, die Maria schon als Säugling kannte, sie geherzt und geküsst und ihre ersten Schritte ins Leben hinein begleitet hatte! Und Friedrich Schiller ließ sie an dieser Stelle den Untergang der Maria Schritt für Schritt miterleben!
    Welch ein grandioser Kontrast! Yason umfasste die Säule mit einem Arm. Er drückte sich noch heftiger an das glatte Gestein. Sein eigener Körpergeruch begann ihm in die Nase zu steigen. Jedes Mal, wenn der Termin einer magischen Aufführung nahte, wusch und rasierte er sich nicht mehr. Diese Enthaltung von der Reinlichkeit erlegte er sich von der ersten Probe an bis zur Aufführung auf. Was zur Folge hatte, dass er zuweilen über zwei Monate lang unerträgliche Geruchsfahnen hinter sich her zog. Aber so verlangten es die alten Schriften. So hatten es die Charismatiker des Alten Testamentes und ebenso die Druiden unseres Kulturkreises getan, und so tat er es auch. Alle Kräfte mussten gesammelt werden. Von den Mondstrahlen bis zu seinen Körperenergien sollten sich alle Kräfte im Brennpunkt der "Black Box", seiner Theaterbühne, fokussieren. Nichts durfte verloren gehen, auch nicht durch überflüssiges Waschen. Alle Energien, derer er habhaft werden konnte, sollten sich am Tage der Aufführung durch magische Regelkreise potenzieren. Die Todesschwingen der Tragödie würden jeden einzelnen Zuschauer erfassen, ihn an den Rand seines eigenen Todes bringen.  Die Qualen der Zuschauer würden sich mit denen der Schauspieler - Yason lachte beinahe laut bei diesem banalen Ausdruck - verbinden und zur Decke der "Black Box" aufsteigen. Von dort war der Sprung in die andere, rätselhafte Dimension vorgesehen. In ihr konnten die lächerlichen Fesseln von Raum und Zeit hohnlachend abgeworfen werden, wenn diese reine Energie sich anschließend auf ein weiteres Opfer werfen konnte. Eine Potenzierung dieser schrecklichen Energie wurde durch die völlige Ahnungslosigkeit  des weiteren Opfers erreicht. Ein wahrhaft böser, magischer Akt.
    Yason roch sich gerne so. Von Gestalt war er nicht schön. Eher etwas dicklich und verquollen. Vielleicht auch etwas zu klein. Doch woran gemessen? Bitterer Triumph begann sich auf seinem Gesicht auszubreiten. Was sollte ihm die Schönheit? Ihm reichte die Macht. Yason war mächtig. Wie mächtig, das merkten vor allem diejenigen, die sich im Brennstrahl seines magischen Theaters wiederfanden und eines grausamen Todes starben. Nach jeder Aufführung - und es gab von jedem Stück nur jeweils eine - fuhr dieser magische Strahl wie ein Suchscheinwerfer durch die Stadt und suchte sich sein jeweiliges Opfer wie einst der Maschchit (der Verderber, Ex.12, 23) die Erstgeburt der Ägypter.
    Yason hörte Maria, die sich inzwischen wieder gefasst hatte, sagen:
    "Was klagt ihr? Warum weint ihr?
    Freuen solltet ihr euch mit mir,
    dass meiner Leiden Ziel nun endlich naht,
    dass meine Bande fallen."
    Diese langweilige christliche Umdeutung des Todesschreckens! Yasons Mundwinkel verzogen sich steil nach unten. Er hatte Lalien, die für ihn die Maria spielte, die Anweisung gegeben, ihre Stimme an dieser Stelle möglichst gebrochen klingen zu lassen. Auch diese ganze weitere Szene, mit der von Melvil - nun wirklich als Priester - dargereichten Eucharistie, diesem pathogenen Sichdreinfinden, würde Yasons Maria mehr stammeln als sprechen. Diese Doppelbödigkeit der Situation, die christlich heroischen Schillerverse einerseits und die Bleichheit und die spürbare Zerrissenheit des Opfers Maria in Gestalt der Lalien auf der Bühne andererseits… Sie würde erst die Energie freisetzen, die nötig war, um die psychologische Auffahrrampe für den Höhepunkt, für Yasons Höhepunkt des Stückes, zu schaffen. Yason lief Speichel aus dem Mund. Erregung durchfuhr ihn. Die Macht hatte ihn ergriffen. Eine gelungene Probe.
     
    Die Aufführung.
    Im Zuschauerraum der "Black Box" stank es regelrecht. Zwar waren wie immer nur 70 Gäste geladen. Aber der Raum war ja vergleichsweise winzig, und die Gefühle schwangen hoch. Yason stand neben den
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