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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Autoren: Martin Horvath
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wie … wie … So heilig wie Rotkäppchen? Ja, genau, so heilig wie Rotkäppchen und der Böse Wolf zusammen, das bist du. Na gut, spielt sie die Beleidigte, dann eben nicht! Ninotschka, erzähl’ mir was von dir, bitte ich erneut, doch vergebens. Ich halte ihr flehentlich die Weichspülerflasche entgegen, aber die hartherzige Heilige lässt sich nicht erweichen, schnappt sich den Stoß an gefalteten Kleidungsstücken und gleitet auf einer Wolke aus Omo oder Persil oder Dixan oder Coral aus dem Raum, sic transit Venus coralensis.
    Geschichtsmäßig herrscht heute also tote Hose im Leo, oder vielmehr tote Höschen, ich verlasse daher diese geschichtslosen Gefilde und steige hinab von den Minder- zu den Volljährigen, hinab von kindlicher Unschuld zur sündigen Welt der Erwachsenen, hinab zur Schwarzen Köchin.
    Die Tür der Schwarzen Köchin steht immer offen. Auf ihrem Herd wartet ein Topf, der nie leer wird, und es gibt immer genug zu essen, nicht nur für die Götter, die von Zeit zu Zeit bei ihr einkehren, sondern auch für die zahlreichen Sterblichen, die zu ihr kommen. Immer sind ein paar Hungrige da, sie machen es sich auf dem Sofa oder auf großen Sitzkissen bequem, nur Pitra, so lautet der Name der Schwarzen Köchin, hockt auf dem Boden. Ich hab’ genug Polster, pflegt sie zu sagen und klatscht sich mit der flachen Hand auf den voluminösen Hintern. Sie geht auch im Winter barfuß, und ihre Füße haben die Größe eines durchschnittlichen Neugeborenen.
    Der Boden in Pitras Zimmer ist mit vielen kleinen Teppichen bedeckt, die Wände sind mit Tüchern verhängt. Die dicken Vorhänge vor den beiden Fenstern sind stets zugezogen, dazwischen steht eine Art Altar mit Blumen und ewigem Licht. Auf einer alten Kommode hat Pitra Dutzende von Figuren aufgestellt, Menschen-, Tier- und Fantasiefiguren in jeder Größe und aus jedem nur erdenklichen Material, dazwischen sind wie in einem Stillleben Äpfel und Birnen arrangiert. Von der Decke hängen weitere Figuren an Schnüren, die meisten davon hat Pitra aus Zeitungen und Magazinen ausgeschnitten und auf Karton aufgeklebt. Wozu brauchst du die alle, wird Pitra immer wieder von Besuchern gefragt. Brauchen? Die Schwarze Köchin schüttelt den Kopf. Das sind meine Freunde, sagt sie.
    Ich setze mich auf das Sofa neben den graugesichtigen Gjergi, nachdem ich seinen Stock auf den Boden gelegt habe. Na, hast du geschlafen, frage ich ihn auf Albanisch, doch ich kenne die Antwort – sie lautet nie anders als Nein. Andere begrüßt man mit Wie geht’s, bei Gjergi lautet die Frage Hast du geschlafen? Es heißt, Frau und Tochter seien ums Leben gekommen oder verschollen, niemand weiß etwas, dafür weiß jeder etwas , seither, so sagt man, habe er kein Auge zugetan. Gjergi ist achtundvierzig, Gjergi ist ein alter Mann, Gjergi ist zum Greis geworden. Auf seinen Stock gestützt durchwandert er das Haus, tagsüber und auch nachts, er klammert sich an den Stock wie an eine letzte Hoffnung, die Hoffnung vielleicht, dass seine Frau und seine Tochter doch noch am Leben sein könnten, die Hoffnung auf Erlösung von den Schuldgefühlen desjenigen, der überlebt hat, die Hoffnung auf Schlaf. Nein, antwortet Gjergi auf Deutsch, kein Schlaf, schlafen darf ich nicht. Die Götter mögen dir Schlaf schicken, erbitte ich himmlischen Beistand, dann wende ich mich der allgemeinen Konversation im Raum zu.
    Heute wird natürlich über Salva gesprochen, den man frühmorgens verhaftet hat. Glaubst du, er kommt zurück, fragt Halima Dolas, und alle Augen richten sich auf die Schwarze Köchin. Pitra steht auf, geht zur Kommode und fängt an, das Stillleben anders zu arrangieren, auch einige der von der Decke baumelnden Figuren werden umgehängt, dann nimmt sie wieder Platz. Kommt er zurück, fragt Halima noch einmal, doch Pitra macht nur eine kleine, fast unmerkliche Bewegung mit dem Kopf. Ihr habt heute noch nichts erzählt, sagt sie schließlich.
    Wer bei Pitra essen möchte, muss nämlich eine Geschichte erzählen, Geschichten sind die Währung, mit der man hier seine Rechnung begleicht. Manche entrichten ihren Erzählobolus auf Deutsch, andere in ihrer jeweiligen Muttersprache, und egal, in welcher Sprache man spricht, man wird von seinen Zuhörern verstanden, Pitras Götterküche macht es möglich. Es haben schon viele versucht, ihr beim Kochen auf die flinken Finger zu schauen und das Geheimnis zu lüften, doch ohne Erfolg. Was ist dein Geheimnis, wird die Schwarze Köchin gefragt. Ich habe
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