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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Autoren: Martin Horvath
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miteinander verbindet: Sie warten. Geduldig oder ungeduldig, ängstlich oder zuversichtlich, apathisch oder voller Tatendrang warten sie auf Papiere. Papiere mit Stempeln, Papiere, die ihnen erlauben, ihre Flucht zu beenden und anzukommen in diesem Land, Papiere zum Arbeiten, zum Leben, zum Hoffen, Papiere, auf denen ihr Menschsein amtlicherseits bestätigt wird: Eine Unterschrift hier und dann noch eine da, und nun der Nächste, aber dalli, dalli!
    Warum sage ich »sie« und schließe mich nicht ein in ein »Wir«? Ich sitze ja auch in diesem Asylwerberheim genannten Wartesaal, in dieser Bahnhofshalle, von deren Gleisen ein Zug abfahren und die Wartenden an ihr Ziel bringen wird, vielleicht, irgendwann, man weiß nicht wann, man weiß nicht wirklich wohin, vielleicht geht es auch wieder zurück zum Ausgangsort. Ja, wir leben Tür an Tür, doch ansonsten habe ich nicht viel gemein mit den Menschen um mich herum. Es sind gute Menschen, ich liebe sie alle, ja, aber was habe ich mit Bauern und Hirten zu schaffen, die ihren verlorenen Hühnern und Schafen und Gänsen nachweinen? Ich, ich gebe nur vor zu warten, denn in Wahrheit gibt es nichts, auf das ich warten müsste. Ich brauche niemand, der meine Flucht für abgeschlossen erklärt, ich brauche keinen, der mir erlaubt, Mensch zu sein, der mir die Lizenz zum Leben, die Genehmigung zum Arbeiten erteilt. Ich bin Mensch, ich lebe, und Arbeit, Arbeit gibt es hier im Haus genug für mich.
    Woher kommst du, Ali, fragen mich meine Mitbewohner. Ist das wirklich so wichtig, gebe ich mit gelangweilter Miene zurück. Doch dann antworte ich geduldig: Ich komme von dort, wo die Wüste, die endlose, sich ins Meer hinausschiebt mit gelbsamtenen Zungen, antworte ich dem einen, der seine Heimat an den Gestaden Westafrikas vermisst; ich bin da geboren, wo Palmblätter sich im Wind wiegen und das Himmelsblau nichts kennt als die Sonne. Ich auch, sagt er, mit Tränen in den Augen, ich auch! Ich bin da zu Hause, wo die Musik zu Hause ist, so lautet meine Antwort für die Götterköchin; auf jener Insel im Meer der sieben Farben bin ich zu Hause, wo die Musik auf den Straßen und Plätzen und in den Farben der Kleider wohnt, in den Bewegungen der Menschen und in ihrer Sprache, ja, sogar in den tanzenden Besen der Straßenkehrer. Ach, hör doch auf, sagt sie seufzend und schickt einen wasserblauen Blick in die Ferne. Bruder, sagt ein Dritter zu mir und umarmt mich, als ich ihm anvertraue, dass meine Heimat da ist, wo die Berge, die wolkenverhangenen, sich über feuchtgrünen Wäldern türmen. Bruder, fragt er, hast du was zum Rauchen mitgebracht?
    Ali ist natürlich nicht mein richtiger Name. Man verstehe mich nicht falsch – es liegt mir fern, den Schwiegersohn des Propheten zu beleidigen. Aber Ali heißt heutzutage jeder zweite Taxifahrer, jeder Kebabverkäufer hört auf diesen Namen oder auch das jüngste von zweiundzwanzig Kindern, dessen Eltern das letzte bisschen Fantasie bei der Zeugung aus den aufgeregten Körpern geschwitzt haben. Mein richtiger Name, ein Name, wie ihn nur von der Natur begünstigte Erstgeborene verdienen, ist viel klangvoller, viel größer. Mein Name ist ein Sturm über der Wüste, in meinem Namen, da spiegeln sich nächtens die silbernen Sterne, und es singen die Vögel, die tausendbunten. Doch diesen Namen, meinen richtigen Namen, kennt nur meine Familie. Kannte nur meine Familie, muss ich sagen, denn ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist, und von mir wird niemand diesen Namen erfahren. Ali, das merkt sich einfach jeder, selbst der dümmste Rassist, selbst der kleinkarierteste Spießer kann den Namen aussprechen, ohne dabei über die eigene Zunge zu stolpern, ja, sogar der zerstreute Professor, der dafür bezahlt wird, den Neuzugängen im Haus das Seelenstethoskop an den nachtschwarzen, steppengelben oder angstbleich pochenden Busen zu legen, sogar er hat sich den Namen gemerkt. Herr … äh … Herr Ali, sagt er, mein Nachname ist ihm dann doch zu kompliziert, Sie haben wirklich eine bemerkenswerte psychische Konstitution! Er blättert ein wenig in meiner Akte. Wirklich erstaunlich bei all dem, was Sie erlebt haben, fügt er hinzu. Sehr erfreut, Herr Doktor, danke, Herr Doktor, auf Wiedersehen, Herr Doktor!
    Bei all dem, was Sie erlebt haben. Man erwarte jetzt nicht von mir, dass ich im Detail über diese Erlebnisse berichte. Es gibt ja auch nicht allzu viel zu berichten: ein bisschen Folter hier, ein bisschen Einschüchterung da, meine Mutter und
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