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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Autoren: Martin Horvath
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keins, gibt sie lächelnd zurück. Esst nur, sagt sie, es gibt genug für alle, und mit jedem Schöpfer gießt sie das Pfingstwunder in die abgeschlagenen Teller und Schüsseln.
    Die Geschichten, die man bei Pitra serviert bekommt, sind manchmal erlebt, manchmal erfunden, viele davon sind einfach, um nicht zu sagen einfältig. Anunu Okode aus Nigeria, Mutter eines Kindes und in Erwartung des zweiten, erzählt heute beispielsweise die Geschichte eines Prinzen, der sich in ein schönes armes Mädchen verliebt. Halima Dolas aus Anatolien, Mutter unzähliger Kinder, erzählt die Geschichte eines schönen armen Mädchens, das sich in einen Prinzen verliebt. Ich erzähle als Kontrast zu so viel edler Einfalt die Geschichte von Yaguine und Fodé.
    Yaguine und Fodé sind zwei fünfzehnjährige Jugendliche, sie leben irgendwo am Rande einer großen Stadt in Afrika. Seit Jahren schon herrscht Krieg in ihrem Land, ihre Väter leben wahrscheinlich nicht mehr, ihre Mütter hat man verschleppt, sie selbst sollten Gewehre in die Hand nehmen und kämpfen, wofür genau, das wissen sie nicht. Doch sie haben sich geweigert, und nun müssen sie fort aus ihrem Land. Ein Nachbar aus ihrem Viertel hat es geschafft, er ist in ein Flugzeug gestiegen und ist davongeflogen ins Paradies. Er hat geschrieben, wie es ihm gelang, unbemerkt in das Flugzeug zu gelangen, und sein Bruder hat ihnen den Brief gezeigt. Sie haben seither die Flugzeuge genau beobachtet, die Tag für Tag direkt über ihren Hütten in den Himmel steigen oder aus den Wolken herabstoßen, sie haben das Loch im Zaun gefunden, das der Nachbar in seinem Brief beschrieben hat, und nun kauern sie im Schutz der Dunkelheit hinter einem Busch, das Flugzeug im Blick. Zwei mit gelben Overalls bekleidete Männer sind mit dem Betanken der Maschine beschäftigt, ein weiterer steht am Bug und spricht in ein Funkgerät. Der Tankvorgang wird gleich beendet sein, der Tankwagen wird das Rollfeld verlassen, kurz danach wird der Mann mit dem Funkgerät den Weg zum flachen Flughafengebäude zurücklegen. Yaguine und Fodé haben diesen Ablauf mehrmals beobachtet, und an diesem Punkt beginnt der gefährlichste Teil ihres Unternehmens: Sie müssen die schützende Dunkelheit verlassen, auf das beleuchtete Rollfeld hinauslaufen und die letzten Meter bis zum Flugzeug zurücklegen, ohne entdeckt zu werden.
    Einer der beiden gelb gekleideten Männer entfernt soeben den Tankstutzen von der Maschine. Zusammen mit dem zweiten Mann rollt er den Schlauch auf und befestigt ihn am Tankwagen. Beide steigen ein, der Wagen fährt langsam davon. Der Mann mit dem Funkgerät steht weiterhin vor dem Bug des Flugzeugs und wartet. Yaguine und Fodé sind ganz am Rand des Rollfelds angelangt. Dann hält der Mann das Funkgerät vor den Mund, sagt kurz etwas, dreht sich um und geht Richtung Flughafengebäude davon. Einen Augenblick lang zögern die beiden Jungen, dann stößt Fodé seinen Freund an. Sie laufen hinaus auf das beleuchtete Asphaltfeld, tauchen in den Schatten der Tragfläche, bücken sich mit zugehaltenen Ohren unter den Triebwerken hindurch und erreichen das Fahrwerk. Fodé rutscht ab, als er auf den Reifen steigen will, und verletzt sich dabei die Hand. Doch dann gelingt es den beiden, sich in den Fahrwerkschacht hochzuziehen, auf beiden Seiten gibt es Nischen mit Platz für zwei sehr schlanke Menschen, die Beschreibung im Brief stimmt genau. Sie haben es geschafft.
    Als sieben Stunden später ein Flugtechniker auf einem Flughafen irgendwo in Europa am Fahrwerk vorbeigeht, stutzt er einen Moment. Aus dem Augenwinkel heraus sieht er ein Stück Stoff aus dem Schacht hängen. Als er näher kommt, erkennt er ein Hemd. Yaguine und Fodé haben es geschafft. Sie haben es geschafft, in die Zeitung zu kommen, nicht auf die Titelseiten zwar, aber immerhin. Jugendliche im Fahrwerksschacht erfroren, lautet die Überschrift, fünf Zeilen hat die Notiz in der einen, sieben in einer zweiten Zeitung, die anderen Blätter haben keinen Platz für die beiden. Das, meine Lieben, ist die Geschichte von Yaguine und Fodé.
    Hör auf, sagt Halima Dolas und hält sich die Ohren zu. Warum du erzählst so traurige Geschichte, fragt Anunu und blickt mich vorwurfsvoll an. Weil Yaguine und Fodé jetzt hier bei uns säßen, wenn sie’s wirklich geschafft hätten. Wie weißt du, fragt Anunu. Ich weiß es einfach, sage ich. Sie lässt ein missbilligendes Grunzen hören. Du weißt ja auch, dass dein Prinz das arme Mädchen am Ende bekommt,
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