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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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er sich aber täusche, wenn er denke, er hätte »unsere Programme« bremsen können. Die grün-orangen Decken können immer noch nur die Russen anfertigen, die, die bei den anderen auftauchen, wurden »uns« gestohlen, yo… »Yo, man«, wird John sagen und beim Aufwachen nichts mehr davon wissen.
    4.
    Tante Mascha fand noch ein Heft von Fjodors Großvater in einer alten Hutschachtel. Natascha kopierte die Notizen für Andreas und freute sich, dass Marina sie wieder loben würde. Sie klingelte und klingelte. Und klingelte wieder. Sie hatte vor dreißig Minuten angerufen und Andreas Bescheid gesagt, sie würde kommen. Sie klingelte noch einmal. Und noch einmal. Als Andreas die Tür endlich öffnete, stand er vor ihr mit blassem, schweißgetränktem Gesicht, seine Hände zitterten. Sie dachte an Fjodor und wurde zu einem Sturm, dem Andreas nicht widerstehen konnte. Sie nahm seine Jacke, seine Tasche, führte ihn hinaus, steckte ihn in ihr Auto, fuhr ihn ins Krankenhaus und rief Marina an.
    »O nein!«, sagte Marina. »Das geht von allein vorbei. Ich bin gleich da, ich spreche mit den Ärzten, wir müssen morgen zurückfliegen. Ich bin sicher, es ist nichts Ernstes. Kannst du bitte trotzdem bei ihm bleiben, bis ich da bin?«

    ♦

    Ein breiter, hoher und langer Krankenhauskorridor, hell und hallend, mit riesigen Fenstern beidseitig: an einer Wand führen sie vorhanglos in den Park, an der anderen sind sie bis zur Mitte weiß gestrichen und zeigen nur die hohen Decken und Fensteroberteile der riesigen Krankensäle. Andreas ging es heute morgen so schlecht, dass er dachte, es sei jetzt doch richtig ernst geworden mit ihm, mit seinem Körper, dem das Atmen entschieden zu anstrengend geworden war. Nachdem ihn der Notarzt schnell untersucht hatte, wurde er auf einem hohen metallischen Bett hierher gerollt und sollte nun warten, bis in einem der Krankensäle ein Platz frei würde (er hofft, es wird kein Platz frei, es gefällt ihm hier). Sein Bett steht an der Parkseite, die Stangen am Kopfende sind mit metallischen Kügelchen versehen. Natascha sitzt gerade und still auf einem Hocker neben seinem Bett, dreht ab und zu lautlos ein Kügelchen. Ihm gegenüber an der Saalseite liegt ein alter Mann, der die ganze Zeit die Decke mit dem Zierstuck in Form eines Gewindes aus Garben und Sicheln betrachtet. Watteähnliche Pappelsamen auf den Fensterbänken draußen. Zwischen den Flügeln des Doppelfensters genau gleich aussehende Wattestreifen, die man im Winter gegen den Luftzug dorthin gelegt hat. Auf der Watte in der Ecke liegt ein zusammengerolltes trockenes Blatt vom vorigen Herbst, bis Andreas in ihm eine Schmetterlingspuppe erkennt. Ab diesem Augenblick liegt da eine Puppe eines Tagpfauenauges, genau das, was in Andreas’ entomologischer Sammlung fehlte, als er ein Kind war. Die Pappeln im Park klappern mit ihren harten trockenen Kiemen. Sie ersticken im Petersburger Sommer, der schon zu Dostojewskijs autoloser Zeit eine Herausforderung für die Atemwege war. Andreas versucht sich an ein paar Sätze aus »Schuld und Sühne« zu erinnern, über »Gedränge, erstickende Hitze und unerträglichen Gestank, der jedem Petersburger gut bekannt war«. Obwohl, denkt Andreas, für Dostojewskij war es überall erstickend: Fallsucht, Geldnot, Verleger, die ihm seine Manuskripte wegrissen, bevor sie ausgereift waren. Andreas fühlt sich hingegen wohl im Petersburger Sommer, selbst im Korridor eines Krankenhauses: Die Unermesslichkeit des Raums ist beruhigend. Trotz der anderen Kranken im Korridor, trotz des stetigen Hin und Her von Krankenschwestern, Pflegern und Besuchern, trotz des säuerlichen Essensgeruchs aus dem Treppenhaus fühlt sich Andreas plötzlich von allen und allem sanft getrennt, auch von seiner Unruhe. Gut , denkt er, es wäre schon wieder fällig, etwas Ungewöhnliches zu machen, gut, dass ich jetzt Zeit und Ruhe habe, darüber nachzudenken, ich werde mir etwas einfallen lassen. Er atmet regelmäßig und frei und will zum Augenblick fast »Verweile« sagen.
    »Endlich habe ich euch gefunden. Zieh dich an, Andreas, ich komme in fünf Minuten wieder und wir gehen. Hier, du musst das unterschreiben, damit sie dich entlassen. Danke, Natascha, dass du auf mich gewartet hast. Ich verstehe, dass du es gut gemeint hast, aber es war wirklich nicht nötig.«
    »Ich hatte Angst um ihn. Er sah Fjodor, ich meine Fjodor damals …, so ähnlich«, sagte Natascha. »Weißt du, es gibt Bäume, die im Wind mit jedem einzelnen Blatt
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