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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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zittern. So zittern auch manchmal Menschen, vor Angst. Ich.« Natascha wurde verlegen wegen der zu schön geratenen Darstellung ihrer selbst.
    »Ok. Nicht schlimm. Du konntest das nicht wissen. Wir melden uns aus Berlin. Grüß John«, sagte Marina und verschwand wieder.
    Natascha vergaß nicht, Andreas die vorbereiteten Kopien zu geben. Im dicken Heft aus der Hutschachtel waren nur die ersten drei Seiten mit einer engen, aber gut lesbaren Handschrift beschrieben. So bekam Andreas noch drei Blätter:
    Blatt 1
    Wir hatten Glück, wir kamen zurück, in die durch Luftangriffe durchschossene Stadt mit den löchrigen Häusern, mit den breiten geraden Straßen, voll von Menschen, die fast normale Kleidung haben, Schuhe, Mäntel, Hosen und Röcke, alles wie bei Menschen. Zum schwarzen Fluss, der den Horror ausdampft. Zu Schlangen in Lebensmittelgeschäften. Mein Gott! Wie glücklich Maria Karlowna ist, dass sie endlich in einer normalen Menschenschlange stehen kann.

    Blatt 2
    Die Gespräche in den Schlangen, der Horror ist noch ganz alltäglich, sie erzählen über ihre Verhungerten, Kinder, Eltern, Gatten; sie sprechen darüber, wie man das Brot am besten über den Tag verteilt, dass man auf keinen Fall zwischendurch auch nur einen Krümel essen darf, man wird dann den Kampf verlieren und alles auf einmal essen. Maria Karlowna ist stolz, dass ich nun meine Professoren-Essensmarke habe und wir zum Schlangestehen in einem speziellen Geschäft berechtigt sind. Sie antwortet, wenn man sie dort nach ihrem Namen fragt, sie heiße Maria Kirillowna. Ich fragte sie, warum. Sie sagte: »Ach, was die Unseren da gemacht haben, ich schäme mich.« Ich glaube, sie hat vor allem Angst. Wer weiß (oder soll ich besser schreiben: »man weiß«?), wie Menschen auf ihren deutschen Vatersnamen »Karlowna« reagieren würden, in dieser Stadt, die von den Deutschen zur Hungerhölle gemacht wurde. Ich habe keine Ängste mehr. Ich schäme mich nur. Ich schäme mich nicht für die Deutschen oder für die Russen, ich schäme mich für die ganze Schöpfung. In erster Linie schäme ich mich für mich selbst. Aber man lebt weiter.
    Blatt 3
    Wie kann ich das beschreiben. Wie kann ich diese Stadt und diese Menschen beschreiben? Auch sie sind in der Hölle gewesen. Im Unterschied zu uns, die wir in die externe Hölle gebracht wurden, wurde die Hölle zu ihnen angeliefert. Äußerlich sehen sie ganz normal aus. Aber nicht alle. Manche haben noch Merkmale der Dystrophie. Die Hiesigen sagen, es gäbe auch psychische Merkmale von Dystrophie. Wie es in extremen Situationen oft passiert, wie ich es so oft gesehen und erlebt habe, die, denen am meisten Mitleid zustehen sollte, werden am meisten verachtet. Das war wohl der Ursprung des rätselhaften Antisemitismus nach den ersten Berichten aus den von den Deutschen besetzten Gebieten. Über von Dystrophie betroffene Menschen sprechen sie hier so, als wären diese selber schuld.
    Marina kam zurück mit dem Entlassungsbrief. Während sich Andreas anzog, las sie das letzte Blatt aus dem Hutschachtel-Heft und sagte:
    »Als ich im Kindergarten war, lagen wir zur Mittagsruhe in einem riesigen Schlafsaal und erzählten Witze (die Erzieherinnen gingen Tee trinken). Jeden Tag nach dem Mittagstisch wurden vierzig Klappbetten hineingeschleppt, aus dem Spiel- und Esssaal wurde der Schlafsaal. Witze hatten wiederkehrende Themen, du weißt schon: politische, erotische, ›Radio Eriwan‹, keine Ahnung, die Kinder erzählten, was sie wo mitgehört hatten, ohne viel davon zu verstehen. Es gab auch Dystrophiker-Witze (die ich später nie mehr gehört habe). Erst jetzt, plötzlich, das heißt tatsächlich wie vom Blitz getroffen, habe ich begriffen, dass diese Dystrophiker-Witze eine Leningrader Spezialität gewesen sind: der Nachhall der Belagerung. Sie waren höhlenmenschenprimitiv, weil in ihnen der Urhorror der Urzeit steckt. Dabei war dieses sehr spezielle Wort ›Dystrophiker‹ (weißt du eigentlich, was das ist?) ein ganz normales, alltägliches, allen verständliches Wort. Vielleicht auch das nur in Leningrad. Hör mal, ich kann mich an einen erinnern:
    In einem Krankensaal (mangels Erfahrung stellt man sich als Kind den Kindergarten-Schlafsaal vor. Der war auch diesem Korridor ähnlich) macht die Krankenpflegerin (man stellt sich die Putzfrau im Kindergarten vor) das Fenster auf, zum Lüften. Die Dystrophiker stöhnen: ›Schwester, machen Sie bitte schnell das Fenster zu! Uns bläst die Zugluft von den Betten weg.‹
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