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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
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Es war nicht mehr reparierbar. Sie spielten eine Weile mit dem Gedanken, mit einer Sintflut alles zu tilgen. Aber irgendwie war ihnen die Welt zu schade für den wallenden Schlund, manches war recht gut gelungen: Schmetterlinge, Wolken, blau-goldene Berge, manche Menschen. Aber eben die Menschen waren das Problem. Sie waren zu kritisch. Auch sie bemerkten, dass nicht alle Details der göttlichen Schöpfung durchdacht waren. Da fielen den Göttern Ablenkungsmanöver ein: Kriege. Revolutionen. Diktaturen. Verrat und niedere Triebe. Und damit gelang es ihnen vollkommen, die kritische Aufmerksamkeit der Menschen in eine andere Richtung zu lenken. Danach empfahlen sie sich.«
    Was John wissen wollte, war: Woher hatte Bison diese Decke? Aber ehe er das fragen konnte, rollte Bison die Decke zusammen und ging so schnell nach unten, dass John sich fragen musste, ob es ihn tatsächlich gegeben hatte oder er nur das Spiel der golden sandigen Luft war.

    ♦

    »Schluss«, dachte Moritz. »Genug, jetzt schicke ich ihn zurück. Soll er weiter in seinen Maisfeldern russische Poesie unterrichten.« Er schloss die Datei und checkte seine Emails. Marina schrieb: »hi, ich habe noch einmal angerufen, ich glaube, ich habe sie erschreckt, sie werden vielleicht das bka anrufen und sagen, die russische mafia sei hinter mörikes überresten her. ich habe eine andere telefonnummer bekommen, ich werde es trotzdem noch einmal mit dem tübinger stift versuchen. gruß, auch von deinem vater. m.«
    Moritz antwortete: »hi, danke, versuch es bitte noch mal mit dem stift. kannst du bitte john perlman fragen, unter welchen bedingungen ich bei ihm slawistik studieren könnte? du hast mir erzählt, er könne studenten seiner wahl unter vergünstigten bedingungen aufnehmen, oder? gruß, natürlich auch an vater. m.«

    ♦

PETERSBURG 2
    1.
    Das ist, dachte sie, wegen dieser Stadt. Wegen dieser Gärten aus Marmor, Granit, Putz, Gusseisen, wegen des gusseisernen Himmels und des bleiernen Wassers, wegen dreier Arten von Licht: das eine fällt vom Himmel herab, das andere steigt vom Wasser hinauf, das dritte, das hellste, ist quellenlos, selbst wenn es regnet, selbst in der Nacht. So viel Leid trug sich hier in nur drei Jahrhunderten zu, wie die anderen Städte über die Jahrtausende verteilt bekommen. Dieses Leiden wurde zu dicht und änderte seine Eigenschaften, es wurde in Licht umgewandelt. Und dieses quellenlose Licht durchströmt die Menschen hier, sie werden alle etwas seltsam, ein bisschen wie nicht ganz bei Sinnen, sogar die einfachsten Menschen.
    Sie gingen, ohne über den Weg nachzudenken, sie kannten den Weg. Und doch: Marina war nie ganz sicher, dass sie – wenn sie bis zur nächsten Ampel ginge und dann nach links schaute – tatsächlich das Haus sehen würde, das dort seit eh und je steht. Stehen sollte. Obwohl es sich regelmäßig herausstellte, dass alles eigentlich stimmte: Die Häuser waren da, die Laternen waren da, die Kanäle, die Plätze waren da und selbst die Menschen waren meistens da, wo man sie vermutete. Dennoch: Nicht einmal in der inneren Landschaft ihrer kleinen Wohnung war sie sicher. An keinem anderen Ort auf der Welt ging es ihr so. Sie hatte manchmal fast Zweifel, dass es diese Stadt tatsächlich gab. Sie hatte einen Verdacht, dass Petersburg in der Tat ein Theater war, das samt allen seinen breiten Straßen und riesigen Entfernungen in einem Karton aufbewahrt wurde. Alles in mehrfacher Überschneidung, ineinander verschränkt und verloren. Auch die Menschen dieser Stadt waren da, in diesem Irrgarten im Karton. Vielleicht ist eine Heimatstadt ein Ort, aus dem man tatsächlich nie einen Ausweg findet. Und Petersburg insbesondere. Aus dem kannst du vielleicht sogar in einem anderen Leben nicht heraus.
    Sie steckte ihre Hand in Andreas’ Trenchcoattasche, aber es begann wieder zu regnen. Sie nahm ihre Hand heraus, und sie öffneten ihre Regenschirme.
    2.
    Man musste den Schirm vor sich halten, um sich gegen die Kraft des schnellen schrägen Regens voranzukämpfen. Mit der Windrichtung zu gehen, wäre unmöglich, der Schirm würde zum Segel und der Passant zum Luftschiff, und wer weiß wohin er flöge. Die Häuser in diesem Teil Petersburgs waren sowieso immer regenfarben. Hier, auf der Wassiljewskij-Insel wohnten im 19. Jahrhundert so viele Petersburger Deutsche, dass Nikolaj Leskow seinen Roman über sie »Die Insulaner« nannte, und sofort war klar gewesen, wen er meinte.
    Sie gingen über die Insel, in diesem Regen,
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