Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
gingen durch den Regen und kamen irgendwohin, aber es war schon egal, wohin sie kamen, denn die Hauptsache für sie war, dass sie durch den Regen gingen und sprachen, und schwiegen, und ihre voneinander abgeschlossenen Gedanken dachten. So werden sie es später in Erinnerung haben und sie werden weder wissen, ob und wohin sie gekommen waren, noch wie lange (wenn überhaupt) sie dort gewesen sind und was (wenn überhaupt) sie dort gemacht haben.
    3.
    Viele Pfade führen in den Schlaf, nur ich kann keinen finden, denkt Pawel und gibt sämtliche Versuche auf, eine bequeme oder wenigstens annehmbare Lage zu finden. Er liegt einfach auf dem Rücken. Seltsam, denkt er, je weniger Freude der Körper dem Menschen bereitet, desto mehr hängt der Mensch an diesem Körper. Die Frage wäre dann natürlich, wer ist »der Mensch«, der nicht gleich Körper ist, aber diese Frage ist nach dem heutigen Stand des Wissens nicht beantwortbar, und diese unbeantwortete Frage wird unmerklich zu einem Pfad in den Schlaf, was Pawel aber nicht merkt, und wenn er erwachen wird, wird er denken, er wäre die ganze Nacht wach gewesen. Und er wird denken, er hätte sich die ganze Nacht gefragt, für wen das Leben ein Geschenk sein soll, und was wäre dieses Geschenk: Wird der Körper der Seele geschenkt, damit sie erfährt, wie sich Schmerz und Freude anfühlen, oder die Seele dem Körper, damit er erfährt, wie sich Schmerz und Freude anfühlen, im ersten Fall sinnlich, im zweiten Fall geistig. Aber Pawel schläft und denkt an nichts, sondern träumt, dass er und seine Mutter in einem Sommerhaus am Frühstückstisch sitzen und hören, wie jemand an die Tür klopft. Die Mutter tut so, als wäre nichts. Pawel, ein kleines Kind, will öffnen. Mutter macht große Augen und führt den Zeigefinger zum Mund. Jemand hinter der Tür weint. Das Licht des Sommertages drängt durch die Risse in der hölzernen Tür. Pawel erwacht und weiß nichts mehr von diesem Sommerhaus, das er in seinem wirklichen Leben nie gesehen hat.
    Tonja raucht auf dem Balkon in die helle Petersburger Sommernacht. Vor fünfzehn Jahren stürzte ein Balkon zwei Häuser weiter hinunter, zusammen mit einem rauchenden Mädchen, das sofort tot war. Ihr Bruder, der in die Wohnung hineingegangen war, um seine Jacke zu holen, machte sich dann sinnlose Vorwürfe, erzählten die Nachbarn. Das war damals die Zeit des allgemeinen Zusammenbruchs. Nicht nur der sowjetische Staat zerfiel. In den Straßen fielen die Bäume auf die Menschen. Auf einmal waren alle öffentlichen Uhren und alle Glühbirnen in den Treppenhäusern kaputt. Die Möwen über der Newa hatten hohle Kreise anstelle der Gesichter. Heute hatten die Möwen wieder Schnäbel und Augen. Bäume, Uhren und Glühbirnen hatten ihre normalen Eigenschaften zurück. Der Staat erholte sich und begann Zähne zu zeigen. Sie geht ins Schlafzimmer und legt sich neben den schlafenden Pawel. Die gewohnte Wärme seines Körpers beruhigt sie. Tonja, die nie mehr als ein paar Gedanken zu denken schafft, bevor sie in einen tiefen Schlaf fällt und im Traum über die Bühne schwebt, fällt in einen tiefen Schlaf und schwebt über die Bühne.
    Andreas kommt ins Zimmer mit der Pendeluhr, schaut Marina an und erkennt sie im Halbdunkel unter der Decke nicht, nur ihr rotes Haar: ein Pekinese auf dem Kissen. Andreas hielt sich nie für einen eifersüchtigen Menschen, aber er merkt seit einiger Zeit ein Unbehagen darüber, dass sich ihr Leben immer woanders abspielt.
    Marina hört im Schlaf, dass Andreas ins Zimmer kommt, und lächelt. Andreas geht wieder in die Küche, setzt sich an den Tisch und liest ein Buch. Über seinem Kopf hängt Marinas Lächeln.
    Natascha sieht im Halbschlaf Stachelschweine, viele Riesenstachel, die ineinander verstachelt sind, ein Stachelwald, auf einem unendlichen Schneefeld.
    John liegt rücklings auf der Luxuspritsche im First-class-Abteil des Nachtzuges Moskau-Petersburg. Der Schneemensch ist wieder allen entgangen. Gleich wird er mit antrainierter Disziplin einschlafen, gedankenlos. Kurz vor dem Einschlafen wird er glauben, er liege auf einer hölzernen Bank in einer undefinierbaren Berglandschaft und lauere auf die im Gras huschenden Füchse, die Nataschas Gesicht haben. Aus einem verrosteten Bus wird Fabian aussteigen, der sich doch als russischer Agent entpuppen wird, er wird plötzlich durchdrehen und schreien, er habe John gleich durchschaut, John habe »unserem Mann« damals mit Betrug das Transportmittel entlockt, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher