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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Wir lachten. Der Urhorror, der in diesem Witz durchschlägt, war uns Kindern nicht bewusst. Oder war er nur mir nicht bewusst? Ich habe immer ein Gefühl, dass alle anderen mehr wissen und verstehen als ich. Siehst du, sie lachten darüber! Und ich lachte mit, ahnungslos.
    Gut, ich muss jemanden fragen, zu welchem Ausgang hier das Taxi kommt.«
    Sie zog seine Stirnsträhne zwischen den Fingern, stellte sich auf die Fußspitzen, küsste seine Schläfe und war wieder weg. Er steckte den Entlassungsbrief in die Gesäßtasche seiner Jeans und spürte mit den Fingern einen kleinen kantigen Gegenstand. Das war ein zu einem Quadratzentimeter gefalteter Fünfzigeuroschein, der ihn ermahnte, dass er einmal einem toten Pauspapiermann in einer Berliner Klinik fünfzig Euro, nämlich diesen Schein, schuldig geblieben war. Er sagte dem Alten, der dabei nicht aufgehört hatte, die Decke zu betrachten: »Verzeihung, ich glaube, das gehört Ihnen, ich habe das unter Ihrem Bett gefunden«, und drückte den Schein in seine kleine weiche Hand. Dann öffnete er schnell den inneren Fensterflügel, nahm die Schmetterlingspuppe heraus, steckte sie anstelle des Fünfzigeuroscheins, stellte sich sandige Puppenbrösel vor, holte sie wieder hervor, ließ sie in die Brusttasche fallen und ging der ihm winkenden Marina entgegen. Tausende von Marienkäfern flogen von der Ostseeküste auf.

    ♦

MÖRIKES SCHLÜSSELBEIN 2
    »Tübingen«, sagte Moritz, und niemand wollte ihm glauben, dass er freiwillig von Berlin nach Tübingen ging. Studieren kann man genauso gut in Berlin. Und was soll man da unten. Marina wusste, warum. Aber auch sie dachte, die Sache wäre erledigt, als sie das Schlüsselbein-Rätsel endlich löste: Es war ein Studentenscherz. Sie haben (und Moritz fand, dass das ganz im Sinne der üblichen Studentenstreiche war, wie eine Gedenktafel »Hier kotzte Goethe« oder ein Grafitto am Hölderlin-Turm, das im hiesigen Dialekt geschrieben war und, wie die Alteingesessenen behaupteten, »Der Hölderlin isch et verruckt gwä!« lautete) in die Mörike-Ausstellung im Stift ein falsches Schlüsselbein geschmuggelt, mit einem Etikett: «Schlüsselbein des Dichters Eduard Mörike (1804-1875) / (clavicula moericensis poetae) / Exhum. № 40482 / Leihgabe des Pragfriedhofs in Stuttgart«. Der ganze Mörike liege unversehrt auf dem Pragfriedhof. »du hattest vielleicht sogar recht mit der armen katze«, schrieb sie ihm in einer SMS. Er erinnerte sich aber nicht mehr an die Katze. Auch die Nachricht konnte ihn nicht mehr beeindrucken: Was sollte das Schlüsselbein mit dem Pragfriedhof zu tun haben, wenn Mörike es sich aus dem Leib gerissen und in den Neckar geworfen hat?
    Er ging am Hölderlin-Turm vorbei, an dem die Barbaren von der Stadtverwaltung jenes Grafitto (»Hölderlin war nicht verrückt« auf Schwäbisch) weiß übermalen hatten lassen, und sah die Punkmädchen in ihren pittoresk aufgeschlitzten Strümpfen auf einer Picknickdecke sitzen, deren grün-orange Streifen unter der Straßenstaubschicht fast nicht erkennbar waren. Sie boten Schlüsselbeine aus gehärteter Modelliermasse feil, die sie in Klarsichtfolie eingewickelt und auf derselben Decke ausgelegt hatten: »Hi, willst du eins?« Er wunderte sich, weil solche Mädchen nie etwas verkauften. Eine sah besonders gut aus, selbst die künstlichen Silberwarzen (wie Marina sie einmal genannt hatte) standen ihr.
    Er kaufte zwei.
    Das zweite, um es aufzubewahren, bis er irgendwann nach St. Petersburg fahren wird, um es als Grabgabe zu Fjodors Grabmal zu bringen.
    Das erste wickelte er aus und warf es in den Neckar. Die Folie blieb im Gras liegen wie die Spucke eines Riesen. Er ging, ohne auf eine Reaktion des Flusses zu warten. Er fühlte sich in diesem Augenblick alt: von seinen Kindheitsträumen befreit und an sie gefesselt.

    ♦

    DIE HANDSCHRIFT AUS DER VERBOTENEN STADT/AUS DEM GEHEIMFACH DES VORSITZENDEN MAO
    Das waren die wenigen Blätter aus der großen Sammlung der Mächtigen von China, die einer unserer alten Freunde von seinem Lehrer erhalten hat. Sicherlich haben sich diese Schriften in der Originalsprache inzwischen schon verändert, denn es ist bekannt (bzw. es wird angenommen), dass sie sich ständig ändern.
    So wird mein Buch enden , dachte Moritz.

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