Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
Bäckers gegen ihren Willen geheiratet hatte. Auch in der Verbannung versuchte Maria Karlowna, genau wie die deutschen Gefangenen, ein bisschen Häuslichkeit zu inszenieren. Als sie durch irgendein Tauschgeschäft in Besitz einer leeren Konservendose kam, pflückte sie dürftige Steppenblümchen für diese »Vase«. Ich bin Russe, ob ich will oder nicht. Sogar als mich die patriotischen Kriminellen als Deutschen verprügelt hatten, konnte ich nichts dafür, ich fühlte mich als Russe. Es ist kein Verdienst, Russe oder Deutscher zu sein. Ich bin aber Russe.
    Das war eine schwierige Stelle. Andreas wusste nicht, wie ausführlich er diese Stelle kommentieren sollte. Musste man zum Beispiel erklären, dass das für die damalige Zeit ein außerordentlich gewagter Gedanke war, weil die Idee, dass Russe zu sein selbstverständlich das Beste ist, was einem passieren kann, zum allgemeinen Weltbild gehörte in diesem Universum, in dem Fjodors Großvater lebte? Oder würden seine deutschen Leser das aus ihrer eigenen Geschichte mit dem Deutschtum verstehen können? Werden sie? Bis zu welchem Jahrgang? Würde das Moritz unkommentiert verstehen? Oder Franziska? Man muss Marina fragen.
    Ich werde jetzt aufhören. Ich kann das sowieso nicht beschreiben. Was sie waren, was wir waren. Unter welchen Umständen wir gelebt haben. Ein paar papierene Lampenschirme unterstrichen nur dieses Elend. Mein Gott, wo haben sie diese Fetzen Papier nur finden können?! Schmutz und Kälte und Hunger und Läuse. Man kann sich das seelische Leid viel besser empathisch vorstellen als das physische. Wenn mein Enkelkind, das jetzt vorm Fernseher über Pooh den Bären lacht, das je lesen wird, wird er das sowieso nicht begreifen können. Was am unbegreiflichsten ist, ist mein damaliger Wille zum Leben. Man durfte unter solchen Umständen nicht leben wollen. Und doch. Sogar kleine Freuden, ein extra Stück Brot, eine Decke, ein paar Stunden Wärme und Ruhe – und man war froh, tatsächlich, das war Freude, das Gefühl war echt, bei all dem Elend und all der Erniedrigung. Was treibt einen denkenden Menschen in menschenunwürdigen Umständen zum Überleben?

    ♦

    Hier, auf der Wassiljewskij-Insel, wohnte Natascha in Fjodors riesiger Wohnung, die sie nun mit ihren Verwandten teilte, ähnlich wie es nach der bolschewistischen Revolution war: In einer großen Wohnung, die irgendwelchen »ehemaligen« »Aristokraten« und »Bourgeoisen« gehörte, wurden anderen Menschen Zimmer zugewiesen, bis der Familie der ursprünglichen Besitzer nur noch ein, maximal zwei Räume blieben. Küche und Bad musste man mit den anderen Wohnparteien teilen.
    »Ist Natascha nicht Manja Nork ähnlich? Ein unruhiges Wesen, das immer irgendwas liest, ein neugieriges, naives Kind«, sagte Marina.
    »Glaubst du. So naiv ist sie wieder nicht. Sie hat eine unglaubliche Beständigkeit«, sagte Andreas.
    »Manja Nork auch«, sagte Marina.
    »Wenn sie so weiter macht, wird sie eines Tages zur Secretary of State in Amerika.«
    »Manja Nork hatte weniger Möglichkeiten, als Frau, damals«, sagte Marina.

    Sie verließen die Insel über die Brücke und kamen am nicht mehr existierenden Studentenwohnheim für ausländische Studenten vorbei, in dem auch Andreas gewohnt hatte, als er in Leningrad studierte. In der geregelten und geschlossenen sowjetischen Welt waren westliche Ausländer eine seltsame, rätselhafte und seltene Erscheinung, jeder Student aus dem Westen war von einer überdurchschnittlichen Aufmerksamkeit umgeben (und übrigens, um ganz ehrlich zu sein, Andreas hatte damals, als Marina ein paar Anrufe von ihm unbeantwortet gelassen hatte, sich selbst davon überzeugt, sie habe sich von ihm trennen wollen, und trennte sich von ihr, weil ihm seine Freunde und seine Mutter immer wieder gesagt hatten, es gehe Marina nur darum, einen westlichen Ausländer zu heiraten und auszureisen). Er hätte jetzt gerne gewusst, was aus seinem Zimmernachbarn geworden war, einem Kosaken aus den südlichen Steppen, der, wie alle russischen Heimbewohner (wenigstens glaubten das die ausländischen Heimbewohner), die zusätzliche Aufgabe hatte, die Westler zu bespitzeln. Andreas hatte sogar gegoogelt, ihn aber nicht gefunden unter den unzähligen Sergej Petrenkos, die aus dem Netz heraussprangen und Milizionäre und Rockmusiker waren, Unternehmer und Taxifahrer, Heilpraktiker und solche, die im Netz nach der Liebe ihres Lebens suchten, oder nach Ersatzteilen für ihr altes Automobil.
    So gingen sie und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher