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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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und niemand hatte sich retten können, weder der Fahrer – denen gelingt es noch am häufigsten! – noch Antanas und Lucija. Die Katastrophe war vergleichsweise gering, die Zahl der Opfer erbärmlich niedrig, keiner Erwähnung in der Weltpresse wert. Allenfalls mochte es eine Nachricht in den Lokalnachrichten gegeben haben. Es mussten noch einige Jahre vergehen, bis ich davon erfuhr. Ganz zufällig treffe ich die Mathematiklehrerin Matulionytė, die ich natürlich nicht erkenne, dafür sie mich. Sie erwischt mich in derselben Gorkijstraße, zupft mich am Ärmel, und dann schleudert sie mir alles ohne Gnade ins Gesicht, die verspätete Nachricht von einer Tragödie in einem indischen Dorf.
    Lucija war in Eile, als fürchtete sie, sich zu ihrem ersten Rendezvous zu verspäten. Der Wolga stand unten und brummte dumpf, sämtliche Geräusche dämpfte der in der Nacht gefallene Schnee. Aus den Schornsteinen der Altstadt stieg Rauch auf. Ein früher Winter? Vielleicht. Und Lucija wird bald tropischen Gefilden begegnen, Affen, Elefanten und heiligen Kühen. Auch sie können alle an Tuberkulose erkranken, aber Lucija und Antanas eilen nicht ihnen zu Hilfe, sondern Millionen Indern. Sieh an, dachte ich, als der Wolga aus dem Hof verschwand, unsere Beziehungen zu Indien sind gar nicht schlecht. Einige unserer Poeten haben bereits die Jaharwal-Nehru-Prämie bekommen, vielleicht werden es noch mehr. An der Universität, erinnerte ich mich, existierte ein Zirkel für Sanskrit-Liebhaber, und die Hauptstadt hatte, wenn auch nur formal, mit dem Staat Orisa einen Freundschaftsvertrag geschlossen. Lucija und Antanas werden die Verbindung mit unseren nächsten Verwandten in Asien weiter stärken.
    Es war noch früh, aber ich verstand, ich würde nicht mehr schlafen können. Abermals brühte ich mir einen Kaffee auf, in der Bar – seufzend hatte mir Lucija ihre Vorräte gezeigt: nicht sehr viel, aber immerhin – schenkte ich mir einen ein und legte eine Platte auf, die gerade zur Hand war. Ravels Bolero . Vielleicht ein wenig zu dramatisch, so gleich am Morgen. Na, mochte sie sich drehen. Im Hof trocknete die Schieläugige wieder ihre ewige Wäsche, fiel der überhaupt nichts anderes ein? Ja, in der Gefangenschaft schärfte sich die Beobachtungsgabe, man sah Details , die einem freien Menschen gar nicht auffallen: eine Wäscherin, die Briefträgerin, Männer und Frauen mit kleinen Kindern, die über den Hof eilten. Die Leute kürzten hier ihren Weg zur Arbeit ab oder brachten ihre Sprösslinge in den Kindergarten. Auch solche, die niemandem auffallen wollten, nutzten diese Katzenpfade. Heute, wo ich diese traurige Geschichte erzähle, hat sich alles ziemlich verändert, die Hofdurchgänge sind vermauert, abgeteilt mit Gitterzäunen, blockiert durch Tore mit Signalanlagen. Seinerzeit gab es hier solche Privatgrundstücke nicht, man konnte herumlaufen, wo man wollte. Vilnius war damals eine besonders angenehme Stadt für Außenseiter der Gesellschaft, auch für Kriminelle. Zumindest die Altstadt. Der Bolero ging schon auf seinen Höhepunkt zu, schraubte sich regelrecht empor wie die Serpentinen eines Gebirgspasses, und ich hockte am Fenster mit dem schon wieder kalt gewordenen Kaffee und brauchte mir wenigstens jetzt nicht den Kopf zu zerbrechen, wie es nun weitergehen sollte. Eine unbeschreibliche Ruhe überkam mich, beinahe ein Glücksgefühl. Dieses Territorium gehörte mir, hier war ich Herr der Lage.
    Obwohl Lucija ausreichend Lebensmittel zurückgelassen hatte, begab ich mich gegen Mittag dennoch auf die Straße, um Zeitungen und Zigaretten zu kaufen. Von weitem erblickte ich Albinas M., unseren Lehrstuhlleiter, nahe der Johanneskirche erkannte ich einige Studentinnen aus meiner ehemaligen Seminargruppe. Das war alles, sonst gab es keine bedenklichen Begegnungen, die mich kompromittieren konnten. Gut gelaunt kehrte ich zurück in meine sichere Basis und ging schon nirgends mehr hin. Niemanden rief ich an, auch für Lucija kamen keine Anrufe. Ich genehmigte mir noch ein paar Gläschen, legte die Beatles auf, dann Domenico Modunjo , Voldemaras Matuška und sogar Edith Piaf. Auf diese Weise aufgewärmt, begab ich mich ins Vaiva , wo ich einige Stunden verbrachte und mit einem Hauptmann der Bereitschaftspolizei, Boleslovas, einem Litauer, Bekanntschaft schloss. Von mir eher spontan auf das Thema Literatur angesprochen, lebte der Mann auf. Es stellte sich heraus, dass es da eine direkte Beziehung zur litauischen Prosa gab. Der
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