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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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schnell zu Tränen gerührt. Natürlich nicht allen. Mir beispielsweise ist klar, dass diese sensiblen Träumer mit ihren schadhaften Lungen die Last einer Epoche trugen, von ihnen kamen die belebenden Ideen und Ermutigungen.
    Aber wieder bin ich vom Thema abgewichen. Bereits zum zweiten Mal, fiel mir ein, übernachtete ich in diesem Ofizin . Und beide Male hatte ich Lucija nicht angerührt. Diesmal gab es nicht mal den Gedanken daran. Sie schlummerte bereits, vor ihrem großen Sprung in den Osten, ich wälzte mich im Bett und konnte keinen Schlaf finden. Mit einem Mal war sonnenklar, dass auch dieses Domizil mich nicht vor mir selbst retten würde. Ein kurzes Innehalten war das nur, am Rand einer großen Grube. Weil ich ihr schon so nah war, konnte ich mich über ihren Rand beugen und schaudernd hinunterblicken. Um zu sehen, wie tief sie war. Um dort dieselben Unglücksraben und Gescheiterten zu sehen, wie ich einer war. Ich sah, wie sie sich anstrengten, um heraus zu gelangen, sich an jeden noch so kleinen Vorsprung klammerten, wackelige Leitern ausprobierten, um dann, einer nach dem anderen, erneut ins Bodenlose zu stürzen. Ich wischte diese Bilder beiseite, aber sie schlichen sich immer wieder an und hielten mich wach bis zum Morgen. Dann war ich fest eingeschlafen, und Lucija musste mich ordentlich durchschütteln, damit ich aus den Federn kam. Sie erschien munter, sprach in gehobenem Tonfall. Aber nichts hatte sie vergessen, auf mein Elend blickte sie mit einer Mischung aus Spott und Nachsicht:
    Hast du schon mal im Gefängnis gesessen? Sicher nicht. Klar, dass du das nicht kennst! So wirst du dich jetzt ein bisschen einfühlen können. Mein Rat lautet: Wenigstens eine Woche lang keinen Fuß vor die Tür.
    Und Zeitungen? Kaffee?
    Du kommst auch ohne Presse aus. Und Kaffee ist da. Es gibt ein Radio, es gibt gute Platten. He, mein Bester, du hörst besser zu, was ich dir noch zu sagen hab. Also: Das Telefon auch besser nicht benutzen. Antanas und ich spüren, dass man uns abhört. Hundertprozentig bin ich mir da nicht sicher, aber es ist besser, sich vorzusehen. Dann noch: Nachbarn. Die gibt es hier im Prinzip nicht. Da ist diese Schieläugige, ich hab sie erst gestern gewarnt.
    Wann? – wunderte ich mich. Wir waren doch die ganze Zeit zusammen?
    Ich sag dir, sie weiß, dass du hier wohnen wirst. Und dass später die Matulionytė kommt. Für dich ist jetzt das Wichtigste, in aller Ruhe auf die Lehrerin zu warten. Dann wird alles seinen Gang gehen. Ich weiß, es wird nicht leicht für dich. Ist doch unweit von hier diese ganze Menagerie versammelt: Die Gorkijstraße, die Universität, langmähnige Typen, diese ganze Halbwelt – das Wort sprach sie mit unverhohlenem Spott aus. Und schließlich das Vaiva . Ich weiß, dort treffen sich die, mit denen du Umgang pflegst. Aber vergiss nicht, dass dort auch Leute von einer anderen Firma einkehren …
    Es war kaum sieben Uhr morgens. Wir tranken schon jeder die zweite Tasse Kaffee. Lucijas Flug nach Moskau ging erst nach zehn. Eine Menge Zeit also. Sie konnte mich weiter belehren, wie es ihr gefiel. Ich hätte ihr widersprechen können. Aber ich schwieg, tat, als sei ich mit allem einverstanden und bereit zu gehorchen.
    Und noch was. Unter diesen Obdachlosen, Hippies und unverstandenen Genies gibt es auch welche, die vom KGB infiltriert sind. Du wärst ein gefundenes Fressen für die. Ja, für so einen bekommt ein Informant mindestens fünfzig Rubel.
    Hör mal, Lucija. Woher weißt du das alles so genau? Diese Subtilitäten? Sogar, wie viel die zahlen?
    Wenn ich es sage, dann weiß ich es auch. Sie betrachtete mich aufmerksam. Hör mal, ich weiß doch, dass du es nicht aushältst. Mir ist traurig zumute.
    Bevor sie ging, umarmte sie mich und küsste mich auf den Mund. Und begann sich schon umzusehen, ob sie auch nichts vergessen hatte.
    Lucija! Es ist noch so viel Zeit!
    Ich weiß, aber ich mag keine Hektik. Hab noch eine kleine Angelegenheit zu erledigen, sie kicherte. Wirklich eine kleine, lach nicht!
    Ich lächelte nur matt. Dankbarkeit fühlte ich keine, schrecklich. Aber auch der Ärger war längst verflogen. Allmählich wurde man abgehärtet. Lucija schaffte es, ein Taxi zu bestellen. Es erschien nach einer halben Stunde, ein graugrüner Wolga , der in den rußgeschwärzten Hof einbog. Klar, ich wusste nicht, dass ich auch sie, Lucija, zum letzten Mal sah. Ein halbes Jahr später kam ihre Mobile Röntgenstation , gelenkt von einem Inder, von einer Brücke ab,
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