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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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Gesicht
hinter einer Maske verborgen, kam näher, und sie spürte
etwas. Als hätte man ihr etwas in die Nase gesteckt. Doch ihr
Kopf war so vernebelt, ihr Körper so schwach, dass sie gar
nicht genau mitbekam, was mit ihr passierte.
Nur eines wusste sie bestimmt.
Sie würde sterben.
Und sie hätte nicht einmal sagen können, ob ihr das etwas
ausmachte.
Tot zu sein, konnte auch nicht schlimmer sein, als diesen
Traum noch einmal durchleben zu müssen.

1. Kapitel
    Caroline Evans Traum war kein Albtraum, und als er sich im
Morgenlicht auflöste, versuchte sie ihn festzuhalten, wünschte
sich nichts mehr, als zurück in den süßen, warmen Schoß des
Schlafs zu schlüpfen, wo das Glück und der Frieden des
Traums eins waren mit der Wirklichkeit ihres Lebens.
    Selbst jetzt spürte sie Brads Arme, die sie hielten, seinen
heißen Atem auf ihrer Wange, seine zärtlichen Finger, die sie
liebkosten. Aber keine dieser Empfindungen war mehr so stark
und eindeutig wie noch vor einem Moment, und ihr Stöhnen –
ein Stöhnen, das ihre Vorfreude auf ein Liebesspiel
signalisierte, sich aber bereits in einen Ausdruck von Schmerz
und Enttäuschung verwandelt hatte – wehte die letzten Spuren
des Traums aus ihrem Bewusstsein.
    Die Arme, die sie eben noch gehalten hatten, erwiesen sich
als beengende, zerknüllte Laken, und von seinem heißen Atem
auf ihrer Wange blieb nur noch die schwache Wärme einiger
Sonnenstrahlen, die sich durch die Jalousien des
Schlafzimmerfensters gestohlen hatten.
    Nur die Finger, die sie berührten, waren real, aber es waren
nicht die ihres Ehemanns, die sie zu einem trägen
morgendlichen Liebesspiel animierten, sondern die ihres zehn
Jahre alten Sohnes, der sie aus dem Bett scheuchen wollte.
    »Es ist schon fast neun«, beschwerte sich Ryan. »Ich werde
zu spät zum Training kommen!«
Caroline drehte sich um, und als sie ihren Sohn ansah,
erstand in ihrer Erinnerung unweigerlich das Bild ihres
Mannes.
Welch eine Ähnlichkeit.
Die gleichen braunen Augen, der gleiche unbezähmbare
braune Haarschopf, die gleichen Gesichtszüge, obwohl sich
Ryans weiche, knabenhaften Züge noch nicht in die perfekt
gemeißelten Linien und Flächen verwandelt hatten, die bewirkt
hatten, dass beinahe jeder – gleichgültig ob Mann oder Frau –
einen zweiten Blick riskierte, wenn Brad einen Raum betreten
hatte.
Hatte der Mann, der ihn umbrachte, ihn auch zwei Mal
angesehen? Wenigstens ein Mal? Waren ihm diese Züge
aufgefallen? Wahrscheinlich nicht – ihn hatten nur seine
Brieftasche und die Uhr interessiert, und die eignete er sich auf
die effektivste Art und Weise an, indem er sich von hinten an
Brad anschlich, ihm den Arm um den Hals legte und mit der
rechten Hand seinen Kopf so weit nach links drehte, bis das
Genick gebrochen war.
Vielleicht hätte sie an jenem Tag nicht in die Leichenhalle
gehen, Brads Leichnam auf der kalten Edelstahlbahre
betrachten und es sich zumuten sollen, dem Tod in seinem
Gesicht gegenüber zu stehen.
Caroline erschauderte bei der Erinnerung daran und
versuchte abermals, sie auszublenden. Aber sie wurde den
letzten Anblick ihres Ehemannes nicht mehr los, ein Bild, das
in ihrem Gedächtnis eingebrannt bleiben würde bis zu dem
Tag, an dem sie starb.
Es wären genug andere Leute bereit gewesen, ihn zu
identifizieren. Jeder seiner Partner in der Anwaltskanzlei hätte
das übernehmen können, oder einer seiner Freunde.
Aber sie hatte darauf bestanden selbst hinzugehen, felsenfest
davon überzeugt, dass hier ein Irrtum vorlag, dass es nicht Brad
war, der im Park das Opfer eines Raubüberfalls geworden war.
Eine eisige Kälte überfiel sie, als die Erinnerung an jenen
Abend im vergangenen Herbst zurückkehrte. Als Brad zum
Joggen aufgebrochen war, ein Stück am See entlang und durch
den Ramble, hatte sie sich um die anbrechende Dunkelheit
Sorgen gemacht. Doch er hatte darauf beharrt, dass ihm ein
paar Kilometer laufen gegen die Nervosität helfen würden, die
ihn seit einigen Wochen quälte. Sie hatte gerade Laurie bei den
Mathehausaufgaben geholfen und Brads Kuss kaum erwidert,
ehe er das Haus verlassen hatte.
Seine, wie sich herausstellen sollte, letzten Worte mit kaum
mehr als einem Nicken erwidert. »Liebe dich«, hatte er gesagt.
Liebe dich.
Diese beiden Worte waren durch ihr Bewusstsein gehallt, als
sie sechs Stunden später wie betäubt auf dieses Gesicht
hinabgestarrt hatte, dass so unglaublich ausdruckslos war, dass
es kaum wieder zu
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