Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
Vom Netzwerk:
erkennen war. Liebe dich … liebe dich …
liebe dich … »Ich liebe dich auch«, hatte sie gewispert,
während die Tränen ihr gnädigerweise den Blick
verschleierten. Und diese Tränen waren auch in den Monaten,
die seit diesem Abend vor einem halben Jahr vergangen waren,
nie ganz versiegt. Sie flossen immer noch, überraschten sie
manchmal spät nachts, wenn sie allein in ihrem Bett lag,
einzuschlafen und sich in den Traum zu flüchten versuchte, in
dem Brad noch am Leben war und weder die Tränen noch die
Wut Teile ihres Lebens waren.
Caroline konnte nicht genau sagen, wann diese Wut sich in
ihr eingenistet hatte.
Jedenfalls nicht bei der Trauerfeier, als sie, ihre beiden
Kinder fest an sich gedrückt, auf der Bank gesessen hatte.
Vielleicht bei der Beisetzung, als sie im späten Nachmittagslicht ihre Hände ineinander verschlungen hatte, als könnten
sie ebenfalls in dem Grab verschwinden, das soeben ihren
Ehemann verschlungen hatte.
Damals hatte sie zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass
Brad gewusst haben musste, dass er mehr oder weniger allein
im stockdunklen Park sein würde, wenn er den See umrundet
haben würde. Und beide wussten sie, wie gefährlich der Park
nach Anbruch der Dämmerung war. Warum war er trotzdem
zum Joggen gegangen? Warum hatte er das Risiko in Kauf
genommen? Doch sie kannte auch die Antworten auf diese
Fragen. Selbst wenn er daran gedacht hätte, hätte er seinen
Lauf zu Ende gebracht. Das war eine der Eigenschaften, die sie
so an ihm schätzte, dass er immer beendete, was er angefangen
hatte.
Bücher, die ihm nicht gefielen, las er zu Ende.
Felsen, die leicht zu bewältigen ausgesehen hatten und sich
dann als beinahe unüberwindlich herausstellten. Beinahe, aber
nicht ganz.
»Warum hast du nicht wenigstens einmal aufgeben
können?«, hatte sie an jenem Abend, vier Tage nach seinem
Tod, vor sich hin geflüstert, als sie in die Dunkelheit gestarrt
hatte. »Warum hast du nicht einmal sagen können: ›Das wäre
wirklich blöd‹, und dich umdrehen und nach Hause kommen
können?« Aber das hatte er nicht getan, und sie wusste, dass er,
selbst wenn ihm dieser Gedanke gekommen wäre, dennoch zu
Ende geführt hätte, was er sich vorgenommen hatte. Damals
hatte die Wut erstmals ihren Kummer gemildert, und obgleich
sie mit Schuldgefühlen einhergegangen war, wusste sie, dass es
genau diese Wut gewesen war, die sie dazu befähigt hatte, in
diesen ersten schrecklichen Wochen zu funktionieren. Jetzt,
mehr als ein halbes Jahr später, wich sie einem anderen Gefühl,
das sie noch nicht genau definieren konnte. Der erste Schock
über Brads Tod war vorüber. Der Aufruhr von Gefühlen – die
erste Taubheit nach dem Schock seines Todes, gefolgt von
Trauer, dann der Wut – kam allmählich zur Ruhe. Während die
Tage unaufhaltsam dahingekrochen waren, hatte sie langsam
damit begonnen, sich mit der neuen Wirklichkeit in ihrem
Leben abzufinden. Sie war auf sich allein gestellt, mit zwei
Kindern, die sie großziehen musste, und wie sehr sie sich auch
manchmal wünschte, in dem gleichen Grab versinken zu
können, in dem Brad jetzt lag, so wusste sie auch, dass sie ihre
Kinder genau so sehr liebte wie sie deren Vater geliebt hatte.
Ganz gleich, wie sehr sie litt, das Leben ihrer Kinder würde
weitergehen, und das ihre auch. So hatte sie ihre Arbeit in dem
Antiquitätenladen wieder aufgenommen und sich nach Kräften
bemüht, den Kindern dabei zu helfen, von den Wunden zu
genesen, die der Verlust ihres Vaters ihnen zugefügt hatte. Auf
den diversen Konten und Sparbüchern war gerade genug Geld
gewesen, um sie ein paar Monate über Wasser zu halten, doch
vergangene Woche hatte sie das letzte Geld abgehoben, und in
zwei Wochen war die Miete fällig. Ihre finanziellen Reserven
waren inzwischen geringer als ihre emotionalen.
»Mom?«, hörte sie Laurie aus der Küche rufen. »Haben wir
noch irgendwo Ahornsirup?«
Während sie sich aus den verwickelten Laken befreite – und
gleichzeitig auch aus dem Chaos ihrer Gefühle –, scheuchte sie
ihren Sohn aus dem Schlafzimmer. »Geh und sag deiner
Schwester, sie soll in der Speisekammer nachsehen; im zweiten
Regalfach musste noch ein Flasche stehen. Und keine Angst,
du kommst nicht zu spät zum Baseball-Training. Großes
Indianerehrenwort.«
Als Ryan aus dem Zimmer hopste und dabei schon nach
seiner Schwester brüllte, stand Caroline auf, zog die Jalousien
hoch und sah aus dem Fenster. Als ihr dann der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher