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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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leuchteten auf der weißen Haut ihres Handrückens. Sheere lächelte ihn an, während ihre Sinne schwanden.
    »Es geht mir gut«, murmelte sie, aber noch bevor sie die letzte Silbe gesprochen hatte, lief ein kaum merkliches Zittern durch ihre Beine, und sie sank über ihm zusammen.
    »Sheere!«, schrie Ben auf.
    Er spürte, wie eine unbeschreibliche Übelkeit seinen ganzen Körper erfasste und seine Kräfte ihn zu verlassen schienen, so wie die Zeit durch eine Sanduhr rann. Er hob Sheere hoch und legte sie auf seinen Schoß, streichelte ihr Gesicht.
    Sheere öffnete die Augen und lächelte schwach. Ihr Gesicht war kalkweiß.
    »Es tut nicht weh, Ben«, hauchte sie.
    Für den Jungen war jedes Wort wie ein Schlag in die Magengrube. Er sah zu Jawahal hoch. Das Phantom beobachtete die Szene wie versteinert, sein Gesicht zeigte keine Regung. Ihre Blicke trafen sich.
    »Das war nicht so geplant«, sagte er. »Es wird das Ganze sehr erschweren.«
    Ben spürte den Hass in sich aufsteigen. Es fühlte sich an, als würde sein Herz zerrissen.
    »Sie sind ein widerlicher Mörder«, stieß er hervor.
    Jawahal warf Sheere, die zitternd in Bens Armen lag, einen letzten Blick zu. In Gedanken schien er weit weg zu sein.
    »Jetzt sind nur noch wir beide übrig, Ben«, sagte er. »Kopf oder Zahl. Verabschiede dich von ihr und komm, wenn du Rache willst.«
    Ein Flammenschleier legte sich über Jawahals Gesicht, und seine brennende Gestalt verschwand durch die Verbindungstür des Waggons und hinterließ ein Loch im Metall, von dem glühender Stahl herabtropfte.
    Ben hörte die Schlösser der Handschellen aufschnappen, mit denen Ian, Michael und Roshan gefesselt waren. Ian kam zu ihnen gelaufen, nahm Sheeres Arm und presste den Mund auf die Wunde. Er saugte kräftig und spuckte das vergiftete Blut aus, das auf seiner Zunge brannte. Michael und Roshan knieten neben dem Mädchen nieder und warfen Ben einen verzweifelten Blick zu. Der verfluchte sich dafür, dass er kostbare Sekunden hatte verstreichen lassen, ohne zu kapieren, dass er genau das hätte tun müssen, was nun sein Freund machte.
    Ben sah auf und betrachtete die Flammen, die Jawahal auf seinem Weg zurückgelassen hatte und die das Metall schmolzen, so wie sich die Glut einer Zigarre durch ein Blatt Papier brannte. Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch den Zug, und dieser setzte sich langsam in Bewegung. Das Fauchen der Lokomotive erfüllte das unterirdische Labyrinth von Jheeter’s Gate. Ben drehte sich zu seinen Gefährten um und warf Ian einen eindringlichen Blick zu.
    »Pass gut auf sie auf«, befahl er ihm.
    »Nein, Ben«, bat Ian, der seine Gedanken erriet. »Geh nicht.«
    Ben umarmte seine Schwester und küsste sie auf die Stirn.
    »Wirst du zurückkommen, um mir Lebewohl zu sagen, Ben?«, fragte das Mädchen mit brüchiger Stimme.
    Der Junge spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
    »Ich liebe dich, Ben«, flüsterte Sheere.
    »Ich liebe dich auch«, antwortete er, und ihm wurde klar, dass er das noch nie zu jemandem gesagt hatte.
    Der Zug nahm Fahrt auf und raste mit ihnen durch den Tunnel. Ben rannte zur Verbindungstür zwischen den Waggons und kletterte durch die klaffende Wunde, die Jawahal in das Metall gerissen hatte.
    Als er durch den nächsten Waggon ging, merkte er, dass Michael und Roshan ihm folgten. Er blieb auf der Plattform zwischen den Wagen stehen und löste die Kupplung, die die beiden letzten Waggons verband. Roshans Finger berührten für einen Sekundenbruchteil seine Hände, aber als Ben wieder aufsah, blieben die verzweifelten Blicke seiner Freunde zurück, während der Zug mit ihm und Jawahal dem dunklen Herz von Jheeter’s Gate entgegenraste. Jetzt waren nur noch sie beide übrig.
     
    Mit jedem Schritt, den Ben in Richtung Lokomotive tat, wurde der Zug auf seiner Höllenfahrt durch die Tunnels schneller. Die Vibration, die das Metall erschütterte, ließ ihn zwischen den Trümmern hin- und hertaumeln, während er den glühenden Fußspuren folgte, die Jawahal auf seinem Weg hinterlassen hatte. Ben schaffte es bis zu einer weiteren Plattform und klammerte sich mit aller Kraft an die Haltestange, als der Zug um eine sichelförmige Kurve bog und eine abschüssige Strecke hinabraste, die direkt zum Mittelpunkt der Erde zu führen schien. Dann beschleunigte der Zug mit einem weiteren Ruck noch mehr, und der Feuerball verschwand in der Dunkelheit. Ben richtete sich auf und folgte weiter Jawahals Spur, während die Räder des Zuges Funken
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