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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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angesichts der Entscheidung, die er jetzt gleich treffen musste, zu keinem klaren Gedanken fähig war.
    »Das erste ist das Schwierigste«, flüsterte Jawahal. »Greif einfach zu.«
    Ben versuchte in Jawahals unergründlichem Blick zu lesen, doch er erkannte nichts darin als sein eigenes blasses, verängstigtes Gesicht. Er zählte innerlich bis drei, dann schloss er die Augen und schob entschlossen die Hand in eines der Kästchen. Es folgten zwei endlose Sekunden, in denen Ben darauf wartete, den rauen, schuppigen Körper und dann den tödlichen Biss der Viper zu spüren. Doch nichts dergleichen geschah; nach dieser Wartefrist ertasteten seine Finger ein Holztäfelchen, und Jawahal warf ihm ein sportliches Lächeln zu.
    »Eine gute Wahl. Das schwarze Kästchen. Die Farbe der Zukunft.«
    Ben nahm das Täfelchen heraus und las den Namen, der darauf stand. Siraj. Ben warf Jawahal einen fragenden Blick zu, und der nickte. Dann war das Schnappen der Handschellen zu hören, mit denen der schmächtige Junge gefesselt war.
    »Siraj«, befahl Ben. »Steig aus dem Zug und verschwinde.«
    Siraj rieb sich die schmerzenden Handgelenke und sah seine Freunde niedergeschlagen an.
    »Ich denke gar nicht daran«, erwiderte er.
    »Tu, was Ben dir sagt«, sagte Ian und versuchte, beherrscht zu klingen.
    Siraj schüttelte den Kopf. Isobel lächelte ihm sanft zu.
    »Siraj, bitte geh«, bat sie ihn. »Tu es für mich.«
    Der Junge zögerte verwirrt.
    »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit«, sagte Jawahal. »Geh oder bleib. Nur ein Dummkopf verschmäht das Glück. Und heute Nacht hast du deinen Vorrat an Glück fürs ganze Leben aufgebraucht.«
    »Siraj!«, sagt Ben bestimmt. »Geh jetzt. Hilf mir ein bisschen.«
    Siraj warf Ben einen verzweifelten Blick zu, aber der strenge Gesichtsausdruck seines Freundes blieb unerbittlich. Schließlich nickte er und ging mit hängendem Kopf zur Tür des Waggons.
    »Bleib nicht stehen, bis du am Fluss bist«, befahl Jawahal, »oder du wirst es bereuen.«
    »Das wird er nicht«, antwortete Ben für ihn.
    »Ich warte auf euch!«, rief Siraj von den Stufen des Zuges.
    »Bis später, Siraj«, sagte Ben. »Geh jetzt.«
    Die Schritte des Jungen verhallten im Tunnel, und Jawahal hob auffordernd die Augenbrauen, um das Spiel fortzusetzen.
    »Ich habe mein Versprechen gehalten, Ben. Jetzt bist du wieder dran. Es ist ein Kästchen weniger, da fällt die Wahl leichter. Entscheide dich schnell, und ein weiterer deiner Freunde darf sein Leben behalten.«
    Bens Blick fiel auf das Kästchen neben dem, das er zuerst gewählt hatte. Es war genauso gut wie jedes andere. Langsam streckte er die Hand aus, doch einen Zentimeter vor der Öffnung zögerte er.
    »Bist du sicher, Ben?«, fragte Jawahal.
    Der Junge sah ihn wütend an.
    »Denk noch mal nach. Deine erste Entscheidung war perfekt; mach jetzt nicht alles kaputt.«
    Ben warf ihm ein verächtliches Lächeln zu und steckte die Hand in das Kästchen, das er ausgewählt hatte, ohne den Blick von Jawahal abzuwenden. Jawahals Pupillen verengten sich wie die einer lauernden Katze. Ben zog das Täfelchen heraus und las den Namen vor.
    »Seth. Geh.«
    Seths Handschellen öffneten sich sofort, und der Junge stand nervös auf.
    »Das gefällt mir nicht, Ben«, sagte er.
    »Mir gefällt es noch weniger«, entgegnete Ben. »Geh jetzt und pass auf, dass Siraj sich nicht verläuft.«
    Seth nickte ernst. Er wusste, dass er das Leben aller in Gefahr brachte, wenn er Bens Anweisung nicht befolgte. Er sah seine Freunde zum Abschied an und ging dann zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal zu den Mitgliedern der Chowbar Society um.
    »Wir werden hier rauskommen, ja?«
    Seine Freunde nickten so überzeugt, wie es ihnen in Anbetracht der Lage möglich war.
    »Was Sie betrifft«, sagte Seth, zu Jawahal gewandt, »Sie sind nichts weiter als ein Haufen Dreck.«
    Jawahal leckte sich die Lippen und nickte dann.
    »Es ist leicht, ein Held zu sein, wenn man aufrecht hier rausgeht und seine Freunde dem sicheren Tod überlässt, stimmt’s, Seth? Du kannst mich noch einmal beleidigen, wenn es dir Spaß macht. Ich werde dir nichts tun. Es wird dir bestimmt dabei helfen, besser zu schlafen, wenn du später an diese Nacht zurückdenkst, während andere hier ein Fraß der Würmer geworden sind. Du wirst den Leuten erzählen können, dass du, der mutige Seth, diesen Schuft beleidigt hast, nicht wahr? Aber du und ich, wir kennen die Wahrheit.«
    Seths Gesicht wurde rot vor Zorn, und blinder Hass
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