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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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verschwunden war. Da wusste ich, dass die Seelen von Lahawaj Chandra Chatterghee und seiner ehemaligen Gefährtin ihren Frieden gefunden hatten. Von da an sah ich nie wieder im Traum den traurigen Blick der Prinzessin des Lichts, die sich über meinen Freund Ben beugte.
    Ich habe meine Freunde in all den Jahren, seit ich an Bord des Schiffes ging, das mich noch am Abend jenes Tages nach England bringen sollte, nie mehr wieder gesehen. Ich sehe noch heute ihre verängstigten Gesichter vor mir, als sie mir von der Mole am Hooghly River zuwinkten, während das Schiff den Anker lichtete. Ich erinnere mich an unser Versprechen, in Verbindung zu bleiben und nie zu vergessen, was wir erlebt hatten. Ich leugne nicht, dass ich schon in jenem Moment wusste, dass diese Worte für immer im Kielwasser jenes Schiffes zurückbleiben würden, das unter dem flammend roten Abendhimmel Bengalens in See stach.
    Alle waren da, außer Ben. Aber keiner war so gegenwärtig in unseren Herzen wie er.
    Wenn ich heute an jene Tage zurückdenke, spüre ich, dass jeder einzelne von ihnen in einem verborgenen Winkel meiner Seele fortlebt, die sich an jenem Abend in Kalkutta für immer verschloss. An einem Ort, wo wir für immer sechzehn sind und der Geist der Chowbar Society und der Mitternachtspalast lebendig bleiben, solange ich lebe.
    Was die Wege betrifft, die das Leben für jeden von uns bereithielt, so hat die Zeit die Spuren vieler meiner Gefährten verwischt. Von Seth hörte ich, dass er nach einigen Jahren die Nachfolge des dicken Mr De Rozio auf seinem Posten im Indischen Museum antrat und damit der jüngste Bibliotheksleiter in der Geschichte des Instituts wurde.
    Ich erfuhr auch, dass Isobel Jahre später Michael heiratete. Die Ehe hielt fünf Jahre, und nach der Trennung reiste Isobel mit einer kleinen Theatergruppe durch die Weltgeschichte. Die Zeit hatte sie nicht daran gehindert, sich ihre Träume zu bewahren. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Michael, der nach wie vor in Florenz lebt, wo er Zeichenunterricht an einem Institut gibt, hat sie nie wiedergesehen. Ich warte immer noch darauf, irgendwann ihren Namen in großen Lettern in der Zeitung zu sehen.
    Siraj starb 1946 , nachdem er die letzten fünf Jahre seines Lebens in einem Gefängnis in Bombay verbracht hatte. Ihm wurde ein Raub zur Last gelegt, von dem er bis zuletzt beteuerte, er habe ihn nicht begangen. Wie Jawahal vorausgesagt hatte, verließ ihn das wenige Glück, das er je gehabt hatte.
    Roshan ist heute ein wohlhabender, einflussreicher Händler, dem ein großer Teil der Straßen in der
Schwarzen Stadt
gehört, wo er als bettelnder Straßenjunge aufwuchs. Er ist der Einzige, der das Ritual einhält, mir Jahr für Jahr zu meinem Geburtstag Glückwünsche zu schicken. Aus seinen Briefen weiß ich, dass er geheiratet hat und die Zahl der Enkel, die durch sein Anwesen laufen, nur von der Höhe seines Vermögens übertroffen wird.
    Was mich angeht, so hat es das Leben gut mit mir gemeint und es mir ermöglicht, diese seltsame Fahrt ins Nirgendwo in Frieden und ohne Entbehrungen hinter mich zu bringen. Gleich nach dem Studium erhielt ich ein Stellenangebot von der Klinik Dr.Walter Hartleys in Whitechapel, und dort erlernte ich tatsächlich den Beruf, von dem ich immer geträumt habe und von dem ich nach wie vor lebe. Vor zwanzig Jahren, nach dem Tod meiner Frau Iris, zog ich nach Bournemouth, wo ich in einem kleinen, gemütlichen Haus wohne und praktiziere, von dem aus man die Küstenlandschaft von Poole Bay sehen kann. Seit Iris mich verließ, sind die Erinnerungen an sie und an das Geheimnis, das ich einmal mit meinen Freunden von der Chowbar Society teilte, meine einzige Gesellschaft.
    Wieder einmal habe ich mir Ben für den Schluss aufgehoben. Noch heute, nachdem ich ihn über fünfzig Jahre nicht gesehen habe, fällt es mir schwer, über ihn zu sprechen, der einmal mein bester Freund war. Von Roshan erfuhr ich, dass Ben in das Haus seines Vaters, des Ingenieurs Chandra Chatterghee, einzog, gemeinsam mit der alten Aryami Bosé, die nie über Sheeres Tod hinwegkam und in tiefe Schwermut versank, welche im Oktober 1941 ihre Augen für immer schloss. Seit damals wohnte und arbeitete Ben allein in dem Haus, das sein Vater erbaut hatte. Dort schrieb er all seine Bücher, bis zu dem Jahr, als er für immer spurlos verschwand.
    An einem Dezembermorgen, als alle, auch Roshan, ihn seit Jahren für tot hielten, erhielt ich ein Päckchen. Ich stand gerade auf der kleinen
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