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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Bewohner der Stadt auf die Straßen strömten, um dieses Wunder zu bestaunen, das sich nie mehr wiederholen sollte, zogen sich die Mitglieder der Chowbar Society zur Brücke zurück und ließen Sheere und Ben allein. Alle hatten die Ereignisse der vergangenen Nacht überlebt. Sie hatten gesehen, wie der brennende Zug in die Tiefe stürzte und ein Feuerball in den Himmel stieg und den Sturm zerriss wie ein teuflisches Messer. Sie wussten, dass sie nie wieder über die Ereignisse dieser Nacht sprechen würden, und falls doch, würde ihnen niemand glauben. An diesem Morgen begriffen sie alle, dass sie nur Zaungäste gewesen waren, zufällige Passagiere in diesem Zug aus der Vergangenheit. Schweigend sahen sie zu, wie Ben seine Schwester im Schnee umarmte, während langsam der Tag die Schatten dieser endlosen Nacht vertrieb.
     
    Als Sheere den kalten Schnee auf ihren Wangen spürte, schlug sie die Augen auf. Ihr Bruder Ben hielt sie in seinen Armen und streichelte sanft ihr Gesicht.
    »Was ist das, Ben?«
    »Schnee«, antwortete der Junge. »Es schneit über Kalkutta.«
    Über das Gesicht des Mädchens huschte ein Strahlen.
    »Habe ich dir von meinem Traum erzählt?«, fragte sie.
    »Das verschneite zu London sehen«, sagte Ben. »Ich weiß. Nächstes Jahr fahren wir zusammen hin. Wir werden Ian besuchen, wenn er dort Medizin studiert. Es wird jeden Tag schneien. Ich verspreche es dir.«
    »Erinnerst du dich an die Geschichte unseres Vaters, Ben? Die ich euch an dem Abend erzählte, als wir zum Mitternachtspalast gingen?«
    Ben nickte.
    »Das sind Shivas Tränen, Ben«, sagte Sheere mühsam. »Wenn die Sonne aufgeht, werden sie schmelzen und nie wieder über Kalkutta fallen.«
    Ben zog seine Schwester sanft hoch und lächelte sie an. Sheeres perlschwarze Augen sahen ihn eindringlich an.
    »Ich werde sterben, stimmt’s?«
    »Nein«, antwortete Ben. »Du wirst erst in vielen Jahren sterben. Deine Lebenslinie ist sehr lang. Siehst du?«
    »Ben«, flüsterte Sheere, »es war das Einzige, was ich tun konnte. Ich habe es für uns getan.«
    Er umarmte sie heftig.
    »Ich weiß.«
    Das Mädchen versuchte sich aufzusetzen und hauchte ihm ganz leise ins Ohr:
    »Lass mich nicht alleine sterben.«
    Ben verbarg sein Gesicht vor den Blicken seiner Schwester und drückte sie an sich.
    »Niemals.«
    So saßen sie eng umschlungen im Schnee, bis Sheeres Puls allmählich erlosch wie eine Kerze im Wind. Die Wolken zogen langsam nach Westen davon, während sich im Morgenlicht für immer das Tuch aus weißen Tränen auflöste, das die Stadt bedeckt hatte.

Gespenster- und Geistergeschichten finden sich bevorzugt an solchen Orten, wo Traurigkeit und Not zu Hause sind. Kalkuttas dunkles Gesicht kennt viele dieser Geschichten, Geschichten, von denen niemand zugibt, dass er sie glaubt, und die doch als einzige Chronik der Vergangenheit im Gedächtnis von Generationen überdauern. Man könnte meinen, dass die Menschen in den Straßen mit einer merkwürdigen Weisheit begreifen, dass die wahre Geschichte dieser Stadt auf den unsichtbaren Seiten ihres Geistes und in ihren stummen, heimlichen Flüchen festgeschrieben ist.
    Vielleicht war es genau diese Weisheit, die in seinen letzten Minuten den Weg von Lahawaj Chandra Chatterghee erleuchtete und ihn begreifen ließ, dass er unwiderruflich im Labyrinth seines eigenen Fluchs gefangen war. Vielleicht erkannte er aus der abgrundtiefen Einsamkeit seiner Seele, die dazu verdammt war, immer und immer wieder die Wunden der Vergangenheit aufzureißen, den wahren Wert der Leben, die er zerstört hatte, und jener, die er noch retten konnte. Es ist schwer zu sagen, was er im Gesicht seines Sohnes Ben sah, Sekunden bevor er es geschehen ließ, dass dieser für immer das Feuer des Hasses auslöschte, das in den Kesseln des Feuervogels loderte. Vielleicht war es ihm in seinem Wahn gelungen, für einen kurzen Augenblick den Verstand wiederzuerlangen, den ihm all seine Peiniger seit den Tagen in Grant House geraubt hatten.
    Sämtliche Antworten auf diese Fragen, seine Geheimnisse, seine Erkenntnisse, seine Träume und seine Sehnsüchte zerstoben für immer in der gewaltigen Explosion, die im Morgengrauen des 30 . Mai 1932 den Himmel erhellte, wie die Schneeflocken, die dahinschmolzen, als sie den Boden küssten.
    Wie auch immer die Wahrheit aussehen mag, mir genügt die Erinnerung, dass kurz nachdem der brennende Zug in den Fluten des Hooghly River versank, auch die frische Blutlache im Bahnhof Jheeter’s Gate
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