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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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ob es ein anderer war, Ben«, sagte Jawahal schließlich. »Ich weiß nicht mehr, ob diese Erinnerungen meine sind oder ob ich sie nur geträumt habe. Ich weiß nicht einmal, ob ich meine Verbrechen begangen habe oder ob sie das Werk eines anderen waren. Wie auch immer die Antworten auf diese Fragen lauten mögen, ich weiß, dass ich nie mehr eine Geschichte schreiben kann wie die, an die du dich erinnerst, und dass ich ihre Bedeutung nicht mehr verstehe. Ich habe keine Zukunft, Ben. Kein Leben. Was du hier siehst, ist nur der Schatten einer toten Seele. Ich bin ein Nichts. Der Mann, der ich einmal war, dein Vater, ist vor langer Zeit gestorben und hat alles mitgenommen, was ich mir erträumte. Und wenn du mir nicht deine Seele gibst, damit ich ewig in ihr lebe, dann gib mir wenigstens Frieden. Denn jetzt kannst nur noch du mir die Freiheit zurückgeben. Du bist gekommen, um jemanden zu töten, der längst tot ist, Ben. Halte dein Wort und werde eins mit mir in der Dunkelheit …«
    In diesem Moment verließ der Zug den Tunnel und jagte mit irrwitziger Geschwindigkeit das zentrale Gleis von Jheeter’s Gate entlang, während sein Flammenmantel in den Himmel schlug. Die Lokomotive fuhr zwischen den großen Bögen des Stahlbaus hindurch und raste dem morgendlichen Licht des Horizonts entgegen.
    Jawahal öffnete die Augen, und Ben erkannte in ihnen die Angst und die abgrundtiefe Einsamkeit, in denen diese verfluchte Seele gefangen war.
    Während der Zug die letzten Meter zurücklegte, die ihn noch von der zerstörten Brücke trennten, tastete Ben in seiner Hosentasche nach der Schachtel mit dem letzten Streichholz, das er aufbewahrt hatte. Jawahal tauchte seine Hand in den Gaskessel, und eine Wolke aus flüssigem Sauerstoff hüllte ihn in einen Schleier. Sein Geist verschmolz langsam mit der Maschine, die seine Seele enthielt, und das Gas verwandelte ihn in ein Trugbild aus Asche. Jawahals Augen warfen ihm einen letzten Blick zu, und Ben glaubte in ihnen eine einsame Träne glitzern zu sehen.
    »Befreie mich, Ben«, murmelte die Stimme in seinem Inneren. »Jetzt oder nie.«
    Der Junge zog das Streichholz hervor und zündete es an.
    »Leb wohl, Papa«, flüsterte er.
    Lahawaj Chandra Chatterghee senkte den Kopf, und Ben ließ das brennende Streichholz fallen.
    »Leb wohl, Ben.«
    In diesem Moment nahm der Junge für einen flüchtigen Augenblick ein von Licht umhülltes Gesicht neben sich wahr. Während die Flammen langsam auf seinen Vater zukrochen, sahen ihn diese innigen, traurigen Augen ein letztes Mal an. Ben dachte, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte, als er in ihnen Sheeres verletzlichen Blick wiedererkannte. Dann verging die Gestalt der Prinzessin des Lichts für immer in den Flammen, die Hand zum Abschied erhoben, ein leises Lächeln auf den Lippen, ohne dass Ben ahnte, wen er im Feuer hatte vergehen sehen.
     
    Die Explosion schleuderte ihn ans andere Ende des Waggons und aus dem brennenden Zug. Er rollte in das Gebüsch, das an der Brücke wuchs. Der Zug entfernte sich, und Ben rannte ihm über den tödlichen Weg hinterher, auf dem die Schienen ins Leere führten. Sekunden später kam es in dem Waggon, in dem sich sein Vater befand, zu einer weiteren Explosion, die so heftig war, dass die Metallpfeiler der Brücke in den Himmel geschleudert wurden. Eine Flammensäule stieg bis zu den Gewitterwolken empor wie ein feuriger Blitz, der den Himmel zerriss.
    Der Zug raste ins Leere, und der Lindwurm aus Stahl und Feuer stürzte in das schwarze Wasser des Hooghly River. Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte den Himmel über Kalkutta und ließ den Boden unter seinen Füßen erzittern.
    Der Feuervogel tat seinen letzten Atemzug und nahm die Seele seines Schöpfers Lahawaj Chandra Chatterghee für immer mit sich.
    Ben blieb stehen und sank auf den Schienen auf die Knie, während seine Freunde von Jheeter’s Gate zu ihm gelaufen kamen. Über ihnen schienen Hunderte kleiner weißer Tränen vom Himmel zu regnen. Ben blickte hoch und spürte sie auf seinem Gesicht. Es schneite.
     
    Die Mitglieder der Chowbar Society versammelten sich an diesem Maimorgen des Jahres 1932 zum letzten Mal, neben der zerstörten Brücke über den Hooghly River, vor den Ruinen von Jheeter’s Gate. Kalkutta erwachte unter einem Mantel aus Schnee. Noch nie zuvor hatte man in der Stadt diesen weißen Schleier gesehen, der sich über die Kuppeln der alten Paläste, die Gassen und die weite Fläche des Maidan legte.
    Während die
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