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Mitternachtsmorde

Mitternachtsmorde

Titel: Mitternachtsmorde
Autoren: Linda Howard
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Gedächtnis; und wenig später ist alles wieder weg. Ihr Gesicht steht mir immer klar vor Augen, aber an ihre Stimme kann ich mich kaum noch erinnern.« Sie starrte auf die Bäume, um die Tränen niederzukämpfen, was ihr, wenigstens vorübergehend, auch gelang. »So viele Jahre, so viele Erinnerungen. Baby, Kleinkind, Mädchen, Teenager, Frau. Ich kann sie in jedem Alter sehen, wie auf einem Schnappschuss, und ich wünschte, ich hätte ihr mehr Beachtung geschenkt, hätte mir alles einzuprägen versucht. Aber kein Mensch kann sich vorstellen, dass das eigene Kind stirbt; man glaubt immer, dass man selbst zuerst geht.«
    »Manche Menschen vertreten die Auffassung, dass wir zurückkommen, um weiterzulernen und um Dinge zu erfahren, die uns in unserem vergangenen Leben entgangen sind.« Er glaubte nicht daran, aber er konnte sich vorstellen, dass der Gedanke Trost spendete.
    »Dann muss ich einige phantastische Leben hinter mir haben«, sagte sie. Sie schnaubte damenhaft. »Und phantastische Ehemänner.«
    Knox war auf diesen Kommentar nicht vorbereitet und prustete unwillkürlich los. Er senkte den Blick und sah, dass sie an ihrer Unterlippe kaute, um sich ein Lächeln zu verkneifen. »Du bist zäh«, stellte er fest. »Du wirst es schaffen.«
    »Und wohin bist du unterwegs?«, fragte Ruth, als sie bei ihrem Auto angekommen waren. Sie hatte nicht geweint, und sie würde das womöglich als Erfolg betrachten, obwohl der Kummer immer noch wie ein Schleier über ihren fein geschnittenen Zügen lag. Sie fragte ihn das, um die Vergangenheit vorübergehend abzuschütteln, nicht weil sie die Antwort wirklich interessiert hätte.
    »Ich bin auf dem Weg zu Jesse Bingham. Jemand hat die Reifen von seinem Traktor aufgeschlitzt und ein paar von seinen Hühnern abgeschlachtet.«
    »Warum, in Gottes Namen, sollte jemand den armen Vögeln etwas zuleide tun?« Sie zog die Stirn in Falten. »Das ist ja grässlich.«
    »Ja, die Hühner wurden schon von vielen bedauert.«
    »Aber niemand bedauert Jesse oder seine Traktorreifen, wie?« Die Stirn glättete sich wieder, und sie ließ sich lachend von ihm umarmen.
    Er hielt ihr die Wagentür auf und wartete aus Gewohnheit ab, bis sie den Sicherheitsgurt angelegt hatte. »Pass auf dich auf«, sagte er, schloss die Tür, und sie winkte ihm zum Abschied zu, während sie den Motor anließ und wegfuhr.
    Knox kehrte zu seinem Auto zurück; er wünschte, sie wäre ihm nicht begegnet. Sie machte ihm ein schlechtes Gewissen, weil er nicht so tief trauerte wie sie. Das konnte er nicht. Und das wollte er nicht. Er wollte eine andere Frau finden, mit der er lachen und Sex haben konnte, die er lieben und die er eines Tages heiraten konnte, um mit ihr Kinder zu bekommen, auch wenn die Chancen dafür verdammt schlecht standen, solange er sich in seiner Arbeit vergrub.
    Er konzentrierte sich wieder auf seinen Job und fuhr raus zur Bingham-Farm, um festzustellen, was es mit der gemeinen Attacke auf sich hatte. Manchmal wussten die Betroffenen ziemlich genau, wer dahinter steckte, oder die Nachbarn hatten etwas beobachtet, aber Jesse war bei aller Welt unbeliebt und hatte keine nahen Nachbarn. Er gehörte zu den Menschen, die alles, was ihnen widerfuhr, auf andere schoben; wenn der Motor in seinem Lieferwagen streikte, ging er sofort davon aus, dass ihm jemand Zucker in den Tank geschüttet hatte. Wenn er etwas verlor, erstattete er umgehend eine Diebstahlsanzeige. Trotzdem konnten ihn die Kollegen nicht einfach rausschmeißen; sie mussten jeder Anzeige nachgehen, denn wenn er nur ein einziges Mal Recht behalten sollte, würde er ihnen die Hölle heiß machen, weil sie ihren Job nicht erledigten.
    Aufgeschlitzte Traktorenreifen und tote Hühner entsprangen allerdings ganz bestimmt nicht Jesses Verfolgungswahn. Entweder waren die Reifen aufgeschlitzt worden oder eben nicht, und die Hühner waren entweder tot, oder sie rannten herum und pickten Würmer auf. Wenigstens würde sich Knox diesmal mit eigenen Augen überzeugen können.
    Jesse Binghams Farm lag auf einem hübschen Flecken mit bewaldeten Hügeln und gepflegten Feldern. Eines musste man Jesse zugutehalten: Er kümmerte sich um sein Anwesen. Die Zäune waren immer in gutem Zustand, das Gras gemäht, das Haus gestrichen und die Schuppen repariert. Und dabei hatte Jesse nicht einmal Hilfe; obwohl er schon Ende sechzig war, erledigte er alles ganz allein. Er war einst verheiratet gewesen, aber Mrs Bingham war klug genug gewesen, ihn vor über dreißig
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