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Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht

Titel: Mitten in der Nacht
Autoren: Nora Roberts
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während seine Mutter Sachen in eine Hutschachtel und einen Koffer stopfte.
    In der Eile ließ sie eine Brosche fallen, an deren Goldflügeln eine kleine Emailleuhr hing. Sie stieß mit der Spitze ihres Pantoffels daran, so dass sie in eine Ecke rutschte.
    »Wir werden sie in den Sumpf tragen. Wir müssen zu Fuß gehen und uns beeilen. Im Gartenschuppen liegen ein paar alte Pflastersteine. Damit können wir sie versenken.«
    Den Rest, überlegte sie, erledigten dann die Krokos und die Fische.
    »Selbst wenn man sie findet, ist das weitab von hier. Der Mann, mit dem sie weggelaufen ist, hat sie umgebracht.« Mit einem Taschentuch aus ihrem Morgenrock tupfte sie sich das Gesicht ab und strich ihren langen goldenen Zopf mit der Hand glatt. »Das jedenfalls werden die Leute denken, falls man sie findet. Wir müssen sie von hier wegbringen, weg von Manet Hall. Rasch.«
    Langsam schlich sich auch bei ihr der Irrsinn ein.
    Der Mond schien. Sie redete sich ein, der Mondschein sei ein Zeichen des Schicksals, das ihr Tun guthieß. Sie konnte den raschen Atem ihres Sohnes hören und die Geräusche der Nacht. Die Frösche, die Insekten, die Nachtvögel, sie alle vereinten sich zu einem kraftvollen Gesang.
    Es war das Ende eines Jahrhunderts, der Beginn eines neuen. Sie würde sich von dieser Verirrung in ihrer Welt befreien und dieses neue Jahrhundert, diese neue Ära stark und rein beginnen.
    Frost lag in der Luft, rau von der Feuchtigkeit. Aber ihr war heiß, sie glühte fast, als sie, bepackt mit der Last der Sachen, die sie zusammengerafft hatte, vom Haus wegstrebte. Die Muskeln ihrer Arme und ihrer Beine lehnten sich dagegen auf, aber sie marschierte wie ein Soldat.
    Einmal, nur ein einziges Mal, glaubte sie etwas über ihre Wange streichen zu spüren, wie den Atem eines Geists. Der Geist des toten Mädchens, der sie verfolgte und sie für ewig anklagte, verdammte und verfluchte.
    Doch die Angst machte sie nur stärker.
    »Hier«, sie blieb stehen und richtete den Blick hinaus aufs Wasser. »Leg sie hier ab.«
    Julian gehorchte, dann erhob er sich rasch, wandte ihr den Rücken zu und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich kann das nicht, Mama. Ich kann es nicht. Mir ist übel. Schlecht.«
    Würgend und weinend taumelte er zum Wasser.
    Nutzloser Junge, dachte sie ärgerlich. Männer bewältigten nie eine Krise. Dazu bedurfte es einer Frau, der Kaltblütigkeit und des klaren Verstands einer Frau.
    Josephine öffnete den Umhang und legte Ziegelsteine auf den Leichnam. Ihr lief der Schweißübers Gesicht, aber sie erledigte ihre grausige Aufgabe wie jede andere auch. Mit schonungsloser Effizienz. Sie holte das Seil aus der Hutschachtel und legte es in sorgfältigen Schlingen um den wieder eingewickelten Körper: oben, unten, in der Mitte. Mit einem zweiten Seil verband sie die einzelnen Schlingen miteinander und knüpfte dann das so geschnürte Paket fest.
    Sie sah hinüber zu Julian, der sie mit aschfahlem Gesicht beobachtete. »Du wirst mir helfen müssen. Allein bekomme ich sie nicht ins Wasser. Sie ist jetzt zu schwer.«
    »Ich war betrunken.«
    »Richtig, Julian. Du warst betrunken. Aber jetzt bist du nüchtern genug, um dich mit den Folgen auseinander zu setzen. Hilf mir, sie ins Wasser zu bringen.«
    Wie bei einer Puppe spürte er seine Beine bei jedem Schritt weich werden und nachgeben. Die Leiche glitt fast lautlos ins Wasser. Ein leises Klatschen, eine Art Gurgeln, dann war sie weg. Ein paar Wellen kräuselten die Oberfläche, schimmerten im Mondlicht und glätteten sich wieder.
    »Sie ist aus unserem Leben verschwunden«, stellte Josephine gelassen fest. »Bald wird sie nicht mehr als dieses Kräuseln sein. Als wäre sie nie gewesen. Sieh zu, dass du deine Stiefel anständig sauber machst, Julian. Gib sie keinem Bediensteten.«
    Sie hakte sich bei ihm unter und lächelte, doch ihr Lächeln hatte etwas Irres. »Wir müssen zurück, brauchen Ruhe. Morgen ist ein aufregender Tag.«
     

2
Manet Hall, Louisiana
Januar 2002
    Seine Mutter hatte Recht – wie immer. Declan Fitzgerald starrte durch die schmutzbespritzte Windschutzscheibe in den peitschenden Winterregen und war froh, dass ihm ihre Häme erspart blieb.
    Obgleich Colleen Sullivan Fitzgerald sich gar nicht zur Häme herabließ. Sie zog lediglich eine perfekt geformte Augenbraue in einem perfekten Bogen nach oben und ließ ihr Schweigen wirken.
    Als er bei ihr angehalten hatte, ehe er Boston verließ, hatte sie ihm kurz und bündig erklärt, er habe den
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