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Mitten in der Nacht

Mitten in der Nacht

Titel: Mitten in der Nacht
Autoren: Nora Roberts
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Ordnung hatte Gründe. Hätte das Mädchen Lucian nicht verhext – denn sicher war irgendein hier gebräuchlicher Hexenzauber im Spiel gewesen –, wäre sie noch am Leben.
    Der Skandal war für die Familie schlimm genug gewesen. Das Durchbrennen. O Gott, was für eine Peinlichkeit! Zuzusehen, wie der Erstgeborene mit einem völlig mittellosen, barfüßigen Weib davonlief, das in einer Hütte im Sumpf aufgewachsen war, und dennoch hoch erhobenen Hauptes weiterzuleben.
    Dann der saure Geschmack der Heuchelei, die danach kam. Es war wichtig, das Gesicht zu wahren, selbst nach einem solchen Schlag. Und hatte sie nicht alles Mögliche getan, dass diese Kreatur sich so kleidete, wie es sich für die Familie Manet gehörte?
    Seidenbeutel und Schweineohren, ging es ihr durch den Kopf. Was nützte all die Mode aus Paris, wenn das Mädchen nur seinen Mund aufzumachen brauchte und nach Sumpf klang? Du liebe Zeit, sie war eine Dienerin gewesen.
    Josephine betrat das Schlafzimmer und zog hinter sich die Tür zu. Sie richtete ihren Blick auf das Bett, auf dem die tote Frau ihres Sohnes lag und zum blauseidenen Betthimmel hinaufstarrte.
    Jetzt, überlegte sie, war Abigail Rouse nur noch ein Problem, das beseitigt werden musste.
    Julian saß zusammengesunken in einem Stuhl, den Kopf in den Händen. »Hör auf zu schreien«, murmelte er. »Hör zu schreien auf.«
    Josephine ging zu ihm und packte ihn an den Schultern. »Sollen sie dich holen kommen, möchtest du das?«, fragte sie ihn. »Möchtest du deine Familie ins Elend stürzen? Gehängt werden wie ein gemeiner Dieb?«
    »Es war nicht mein Fehler. Sie hat mich verführt. Dann hat sie mich angegriffen. Sieh nur. Sieh.« Er drehte seinen Kopf. »Sieh doch, wie sie mir das Gesicht zerkratzt hat.«
    »Ja.« Einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick geriet Josephine aus dem Gleichgewicht. Trotz ihrer Hartherzigkeit, die sie verkörperte, regte sich etwas in ihr und lehnte sich auf gegen das Entsetzen vor der Tat, die alle Frauen fürchten.
    Wer und was sie auch war, Abigail hatte Lucian geliebt. Wer und was sie auch war, sie war nur wenige Schritte vor dem Bettchen ihres Kindes vergewaltigt und getötet worden.
    Julian hatte ihr Gewalt angetan, sie geschlagen und geschändet. Sie getötet.
    Betrunken und wahnsinnig hatte er die Frau seines Bruders umgebracht. Gott hab Erbarmen.
    Dann schob sie dies alles resolut beiseite.
    Das Mädchen war tot. Ihr Sohn nicht.
    »Du hast dir heute Abend eine Prostituierte genommen. Wende dich nicht ab von mir«, herrschte sie ihn an. »Ich weiß Bescheid über das, was Männer tun. Hast du dir eine Frau gekauft?«
    »Ja, Mama.«
    Sie nickte zufrieden. »Dann war es die Hure, die dich gekratzt hat, sofern jemand die Dreistigkeit besitzt, dich danach zu fragen. Du warst heute Abend zu keiner Zeit im Kinderzimmer. Verstanden?« Sie nahm sein Kinn in die hohle Hand, damit seine Augen auf ihrer Augenhöhe blieben. Und ihre Finger gruben sich in seine Wangen, als sie leise, aber in deutlichen Worten auf ihn einredete. »Welchen Grund hättest du auch gehabt, dorthin zu gehen? Du bist ausgegangen, um zu trinken und dich mit Weibern zu amüsieren, und nachdem du von beidem genug hattest, bist du nach Hause gekommen und ins Bett gegangen. Ist das klar?«
    »Aber, wie sollen wir erklären –«
    »Wir werden nichts erklären. Ich habe dir gesagt, was du heute Nacht gemacht hast. Wiederhol das.«
    »Ich – ich bin in die Stadt gegangen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Schluckte. »Ich habe getrunken, dann bin ich in ein Bordell gegangen. Ich bin nach Hause gekommen und ins Bett gegangen.«
    »Genau. Genau so war es.« Sie streichelte ihm die zerkratzte Wange. »Jetzt werden wir ein paar Sachen von ihr einpacken – Kleider, ein wenig Schmuck. Und das machen wir überstürzt, wie sie es auch getan hätte, als sie beschloss mit einem Mann durchzubrennen, mit dem sie sich insgeheim getroffen hat. Ein Mann, der durchaus auch der Vater des Kindes da oben sein könnte.«
    »Welcher Mann?«
    Josephine seufzte schwer. Er war ihr Liebling, aber an seinem Verstand verzweifelte sie oft. »Macht nichts. Julian. Du weißt nichts davon. Hier.« Sie trat vor den Kleiderschrank und entschied sich für einen langen schwarzen Samtumhang. »Wickle sie darin ein. Beeil dich. Na mach schon!« Der Ton, in dem sie das sagte, brachte ihn auf die Beine.
    Ihm war flau im Magen und seine Hände zitterten, aber er wickelte die Leiche so gut es ging in den Samt,
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