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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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ihn Heimkehr, Auswanderung für sie.
    Ihr Abschied von den Eltern, eine letzte Umarmung in Konstanz über den Grenzbalken hinweg – oder sagte sie doch, dass sie noch einmal hinüber ins besetzte Vater-Mutterland fuhr?
    Die Reise dahin klassisch: von Genua aus mit dem Schiff, vorbei an Korsika und den Liparischen Inseln, Stromboli nachts als dunkler Kegel aus dem Meer ragend, mit kurzen Aufenthalten in Neapel und in Athen. Den Kanal von Korinth haben sie leider verschlafen, frühmorgens wie die Passage war. Sonst aber stehen sie tagein, tagaus an der Reling, eng aneinandergeschmiegt, nein, nicht umschlungen, das ist nicht ihre Art, nicht in der Öffentlichkeit, und während die Küsten kommen und gehen, schauen sie übers Wasser und träumen ihrer Zukunft entgegen – heute liegt bereits ein gemeinsames halbes Jahrhundert hinter ihnen.
    Dann aber, als sie die Meerenge von Çanakkale passiert haben und das Marmara Meer sich grünblau vor ihnen auftut, beginnt Ali von Erdek zu erzählen: Dort hinter der Landzunge steht es am Ufer, das Sommerhaus seiner Familie, versteckt unter einer Platane und einer Schirmpinie, vom Schiff aus nicht zu sehen; dort hat er seine glücklichsten Kindertage verlebt. Und während sie weiter unterwegs sind in Richtung Istanbul, nun wieder übers offene Meer, erzählt er von Abenteuern mit dem ersten Boot, von plötzlich hereinbrechendem Sturm, zerrissenem Segel und Wasserschöpfen, und von der frühen Erfahrung, unwahrscheinliches Glück gehabt zu haben.
    Als am Horizont die Küstenlinie auftaucht und die Stadt der Städte ihre Silhouette entfaltet, verstummen sie beide. Und als Paläste und Moscheen schon deutlich erkennbar sind, streckt Ali die Hand aus – seine Stadt! Seine junge Frau lehnt an seiner Schulter, das Herz schlägt ihr bis in den Hals, dröhnt ihr im Ohr; und daran vorbei rauschen die Namen, die Ali ihr nennt. Sie hört seine Stimme, sieht seine Hand, daran den Ring, dahinter die Türme und Kuppeln der Stadt, die schon sehr nah ist, fast greifbar – die nun auch ihre wird!
    Und plötzlich, als das Schiff um Sarayburnu hereindreht und das Goldene Horn sich auftut und die Stadt sich zeigt, hügelauf, hügelab ein Gewirr von Häusern und Gewimmel von Menschen auf den Straßen und auf dem Wasser all die Boote, die Luft voller schreiender Möwen und Schiffstuten und Gerüche vom Hafen, von Meer- und von Abwässern, von Öl und Teer und Schweiß, von frischem und von gebratenem Fisch, und von blühenden Akazien der Duft, da, plötzlich, schießen ihr Tränen in die Augen, ein Sturzbach, sie weiß nicht warum.
    So wird es gewesen sein. So, denke ich, würde es zu Ingrid passen.
    Undenkbar aber, dass sie, als sie an Land ging, nur Liebe und Schönheit und Güte fand! Das herrliche Istanbul wird auch ihr seine hässlichen Fratzen gezeigt haben.
    Vergiss nicht, sagt Ingrid, wenn ich sie nach jener Zeit frage, der Idealismus, mit dem die türkische Republik gegründet und aufgebaut wurde, war noch zu spüren, als ich nach Istanbul kam. Etwas Pionierhaftes lebte in uns allen. Das half uns über vieles hinweg. Das trug uns. Zwar war alles sehr knapp, Kaffee zum Beispiel gab es lange Zeit keinen, und wenn jemand Nescafé mitbrachte aus Europa, war’s ein Fest, aber die Stimmung im Land, die war wunderbar. Uns beflügelte die Idee eines autarken, modernen, laizistischen Staates, in dem alle Menschen Arbeit und Auskommen finden. Ja, wir waren zuversichtlich, dass es gelingen wird. Glaub mir, es gab noch echte Freundschaft und Menschenliebe. Und tatsächlich fing die junge Republik ja bereits an, auf eigenen Beinen zu stehen, unabhängig von allen Ländern ringsum, unabhängig auch von den beiden großen Machtblöcken. Und fast immer schließt Ingrid mit dem Satz: Ach, es war eine wundervolle Zeit!
    Und manchmal sage ich dann: Aber mit dem Nato-Beitritt nahm der Traum ein Ende.
    Ja, so war es. Langsam, aber sicher wurde unser Leben an den Westen gekettet. Unser eigenes, unabhängiges galt nichts mehr. Schade drum!
    Die vielen Enttäuschungen, die Einbrüche und Umschichtungen, die Ausnahmezustände und Putsche, Not und Angst und Hunger und Krieg in Deutschland, in der Schweiz, in der Türkei, deshalb vielleicht hält sich Ingrid so sehr ans Gute und spricht so ungern übers Ungute. Ingrid, die so viele kennt und von einem zur andern und weiter hüpft und springt und organisiert und sorgt und hilft, dass es ja allen gut gehe, geht über die Frage, wie es denn ihr gehe, lächelnd hinweg –
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