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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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werde ich nicht satt.
    Was ich von ihr weiß: Sie, die Professorentochter aus Weimar, hatte einstmals lockiges, goldbraunes Haar – inzwischen ist es schlohweiß, aber ihr Lachen ist mädchenhaft geblieben, und ihre hellen Augen strahlen noch immer; und nach wie vor ist sie erfüllt vom Schönen, Wahren, Guten. Schlecht allerdings war die Zeit, als sie jung war, sehr schlecht! Und außerdem lag ein Schatten auf des jungen Mädchens Lunge. Um diesen Schatten wegkurieren zu lassen, schickten ihre Eltern sie in die Schweiz. Die Reise dorthin tat das Mädchen aus Weimar allein, mit dem Zug – es war im Jahre 1944.
    Jenes Mädchen aus Wien, von dem Ruth Klüger berichtet, sieht vom Zug aus – im Juni 1944 war es, auf dem Transport von Birkenau in ein Arbeitslager in Niederschlesien – einen Jungen, der in freier, schöner Landschaft eine Fahne schwingt; sie sieht ihn, er sieht sie nicht, nur den vorbeifahrenden Zug sieht er; und das Mädchen, schreibt Ruth Klüger, begann zu grübeln über das, was im einen selben Raum geschieht und doch Welten entfernt voneinander ist –
    Was sah das junge Mädchen aus Weimar auf der Fahrt durchs deutsche Land? Wer saß im Zug ihr gegenüber, mit wem sprach sie, worüber? Und dann in der Schweiz, während Europa ringsum in Flammen stand beziehungsweise in Schutt und Tod und Asche fiel, was hörte sie, was erfuhr sie, was empfand sie, was dachte sie, was vor und was nach dem Kriegsende?
    Als der Krieg zu Ende war, endlich, und des Mädchens Lunge einigermaßen geheilt, folgte sie dem Rat einer wohlmeinenden Dame in Lausanne: Sie kehrte nicht ins besiegte, kaputte, hungrige Deutschland zurück, sondern blieb in der Schweiz, nun als femme de chambre im noblen Hotel-Sanatorium Belvédère in Leysin. Wie war es für sie als mittelloses junges deutsches »Mädchen«, den Herrschaften aus aller Welt die Zimmer und die Schuhe zu putzen, die Betten zu machen, den Tisch zu decken, das Essen zu servieren? Zwar gehörte die Schweiz nicht zu den aktiven Siegermächten, aber die Schweizer Mitsieger-Mentalität wird sie ganz sicher zu spüren bekommen haben.
    Wir haben geschuftet von morgens bis abends, um Geld zu verdienen, damit wir Pakete nach Hause schicken konnten – zu Hause hatten sie ja nichts, was konnten wir also Besseres tun! Mehr sagt sie nie. Höchstens: Ja, es war schlimm damals, aber gottlob liegt diese finstere Zeit lange hinter uns!
    Einmal sagte sie: Für meinen Vater waren Goethe und Schiller die Rettung, an ihnen hielt er sich fest, während Mutter vollauf damit zu tun hatte, das Überleben von Tag zu Tag zu organisieren, was ja wirklich nicht einfach war damals.
    Ingrids Erinnerung an ihre Zeit in der Schweiz ist überstrahlt vom Glanz ihrer großen Liebe, die alles andere, was sonst noch war, in den Schatten stellt.
    Monsieur le Turc, der Patient von Zimmer 122, hatte es mir angetan, und ich es ihm, und zusammen haben wir, soweit wir frei waren von Genesungs- und Arbeitsverpflichtungen, die Tage durchschwebt.
    Auch die Nächte?
    Sie lachte: Rosa Wolken, du weißt doch, wie das ist!
    Immerhin erwähnte sie Schlittenfahrten im Vollmondschein.
    Trotzdem, so kann es nicht gewesen sein. Sie hätte es gerne so. Was aber nirgendwo auf der Welt möglich ist, dass Menschen nur »gut« sind, warum ausgerechnet in der Schweiz!
    Über alles, was nicht »gut« ist, geht Ingrid lächelnd hinweg. Höchstens dass sie sagt: Und wie oft schon haben wir gedacht, schlimmer kann es nicht werden, jetzt sind wir am Ende, aber dann findet sich immer irgendwie ein Weg! Manchmal fügt sie noch hinzu: So ist das eben bei uns in der Türkei! Ihr verschmitztes Lachen dann, als ob ich nicht an Wunder glaubte.
    Sie mit ihrer Sicht auf ihre Wunder-Türkei – vielleicht glaubt sie selbst nicht wirklich daran und ist jedes Mal wieder erstaunt, dass doch noch immer Wunder geschehen.
    Einmal die Frage oder eben Nicht-Frage deutscher Freunde an mich, die in einer deutschen Zeitung über eine brutal niedergeschlagene Revolte in einem Istanbuler Gefängnis gelesen hatten: Was sagst du nun dazu, was deine Türken da mal wieder getan haben?
    Was sollte ich sagen – ich rief Ingrid an, um zu hören, wie sie es sah.
    Ja, auch hier ist davon berichtet worden, sagte sie, aber vergiss nicht, früher gab es das nie, Fotos von prügelnden Polizisten. Oder wenn, nur mit untergestelltem Text, dass staatsgefährdende Provokateure zerstreut wurden. Nun endlich wird auch hierzulande die Gewalt öffentlich diskutiert, in
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