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Mitte der Welt

Mitte der Welt

Titel: Mitte der Welt
Autoren: Ursula Priess
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allen Medien und sehr kontrovers. Heutzutage ist es möglich! Das ist doch wunderbar! Frag deine Freunde in Deutschland, woher sie ihr Türkei-Bild nehmen. Frag sie, ob sie es aus den deutschen Medien kritiklos übernehmen und ob es nicht einseitig ist, dieses Bild, das niemals Gutes zulässt – als ob es Gutes nicht auch gäbe, überall, auch in der Türkei.
    Ingrid hat natürlich recht, es ist auch eine Frage der Perspektive.
    Und wahrscheinlich sagte sie am Telefon noch, was sie oft sagt: Ach ja, unsere lieben Türken! Sie sagt es, als ob sie die lieben Türken allesamt unter ihren mütterlichen Schutzmantel stellte und um Nachsicht bäte für Kinder und ihre Kindereien.
    Oder, auch denkbar: Ingrid mag mir nicht sagen, dass mein Blick, meine Art des Schauens und Fragens, mein Staunen und Wundern, mein Lachen und Weinen über Istanbul doch immer noch sehr von außen ist, von Europa her.
    Nein, Anklagen und Urteilen maße ich mir nicht an. Aber wissen will ich und verstehen, was ich sehe und: wie Ingrid es sieht – sie, die vor bald fünfzig Jahren nach Istanbul kam, sie, die Istanbulerin wurde mit ganzem Herz, Türkin auch dem Pass nach; ohne Kopftuch versteht sich, aber gläubig festhaltend an Atatürks Ideen.
    Heute nach der Konzertprobe versuchte ich es wieder: Du weißt doch, wie sehr ich Istanbul liebe und dass auch ich finde, in Europa ist das Bild der Türkei unverdientermaßen schlecht. Du aber – falls ich jemals über Istanbul schreiben sollte –, du wärst fürs gute Istanbul ein gutes Beispiel!
    Zärtlich fasste sie mich am Arm und sagte mit bedeutungsvollem Blick: Ausgerechnet du ! Aber meinetwegen – du wirst wissen, da bin ich mir sicher, was geht und was nicht! Aber nun lass uns über etwas anderes reden! Und sofort erzählte Ingrid dann, welche Ausstellung sie gestern gesehen hat oder welchen Film, und von Freunden, mit denen sie sich traf, was die doch für feine Menschen sind und was die wieder Feines gemacht haben. Und fragte auch, wie mein Besuch in Deutschland gewesen ist, wie es meinen Kindern geht, wie meiner Mutter – nein, sie fragt anders: In Deutschland war’s gut? Deinen Kindern geht’s gut und deiner Mutter auch?
    Und als ich erzählte, meine Mutter komme mich besuchen, wieder ihre Sorge, dass ich Istanbul nur ja von der besten Seite präsentiere. Und versprich mir, dass du sie vor den Löchern in der Straße bewahrst und ihr hilfst bei den hohen Trottoirs und sie im Verkehr beschützt! Und führ sie nur in die besten Restaurants! Und was macht deine Mutter mit den vielen Treppen, drei Stockwerke hoch bis in deine Wohnung?
    Liebe Ingrid, was für ein Bild von Europa hast du, dass du meinst, die Menschen dort könnten keine Treppen steigen und nicht auswärts essen, ohne Schaden zu nehmen?
    Du hast recht, meine Sorgen sind Unsinn!
    Und doch: Ohne Ingrids sorgende Hilfe hätte ich mich im Dickicht des türkischen Alltags oft verheddert! Treu besorgt führte sie mich ein und klärte mich auf über die Sitten hierzulande; und sogar ihre Sicht auf den südöstlichen Teil des Landes begann ich zu verstehen, den nicht »Kurdistan« zu nennen ich versprach. Kurdisch als Sprache, ja, die gibt es, auch natürlich Kurden, die heute überall im Land leben, die meisten in den großen Städten.
    Nur ein einziges Mal verschlug es Ingrid die Sprache. Als ich sie anrief, sie möge mir verzeihen, dass ich mich die Tage nicht gemeldet habe, mir sei etwas passiert – nämlich: Ich habe mich verliebt!
    Erst sagte sie gar nichts. Durch den Telefonhörer hörte ich: Sie war ratlos. So so, verliebt bist du!
    Ja, bis über beide Ohren.
    Na wunderbar für dich! Immerhin gut, dass du dich doch noch gemeldet hast!
    Dann hängte sie auf. Und rief kurz danach wieder an, bombardierte mich mit Fragen, wer er sei, ob Türke und woher, was er mache, wo ich ihn kennengelernt habe. Sie ließ nicht locker, wollte nicht glauben, dass ich nicht in die Fänge eines beutel- oder gar halsabschneiderischen Unholds geraten bin.
    Nein, so ist es nicht zwischen Ingrid und mir! Es ist ganz anders. Ihre Fürsorge, ihre Liebe, ihr Interesse tun mir wohl. Nur eben, es ist mir zu wenig.
    Was sie mir erzählt hat: 1947 Heirat in Villeneuve am Genfersee, im frühen Frühjahr war es, ohne Pomp, mager wie die Zeit damals war, und beidseits ohne Eltern; aber mit Hochzeitsspaziergang dem See entlang, über dem, sagte sie, ein Schimmer von mediterranem Glanz lag, Verheißung von Zukunft.
    1949 die Übersiedlung nach Istanbul. Für
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