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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen
Autoren: Melissa Panarello
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mir, er habe die Liebe kennen gelernt, aber sie sei ihm wieder entwischt.
    »Und du?«, fragte er, während er mit der Fingerkuppe über den Rand seines Glases fuhr. »Was erzählst du mir über dich?«
Ich habe mich geöffnet, habe ein klein wenig Licht in den dichten Nebel dringen lassen, der meine Seele umhüllt. Ich habe ihm das ein oder andere über mich und meine unseligen Geschichten erzählt, aber mein Verlangen und meine Suche nach echten Gefühlen erwähnte ich mit keinem Wort.
Er sah mich aufmerksam und ernst, ja traurig an und sagte: »Ich bin froh, dass du mir deine Vergangenheit erzählt hast. Das bestärkt mich in dem Bild, das ich mir von dir gemacht habe.«
»Was für ein Bild?«, fragte ich und fürchtete schon, jetzt käme der Vorwurf, ich sei ein leichtes Mädchen.
»Das Bild eines Mädchens, sorry, einer Frau, die einiges durchgemacht hat, um die zu werden, die sie ist. Und um diesen Blick zu bekommen, der einem durch Mark und Bein dringt. Melissa, eine Frau wie du ist mir noch nie begegnet ...« Er legte beim Sprechen immer wieder lange
Pausen ein und schaute mich nur an. »Ich schwanke ständig hin und her: Einmal möchte ich dich einfach nur zärtlich an mich drücken, dann wieder fühle ich einen geheimnisvollen, unwiderstehlichen Sog von dir ausgehen ...«
Ich lächelte. »Dabei kennst du mich noch gar nicht richtig«, sagte ich. »Vielleicht empfindest du bald nur noch eins von diesen Gefühlen ... oder gar keins mehr.«
»Schon möglich«, meinte er, »aber ich möchte es wenigstens versuchen ‒ dich richtig kennen zu lernen. Wirst du mir das gestatten?«
»Natürlich, natürlich gestatte ich dir das!«, sagte ich und ergriff seine auf dem Tisch liegende Hand.
Ich kam mir vor wie im Traum, Tagebuch, wie in einem wunderschönen Traum ohne Ende.
1 Uhr 20
    Gerade habe ich eine SMS von Valerio bekommen, er sagt, er will mich sehen, aber jetzt scheint auch er mir Lichtjahre entfernt zu sein. Ich weiß, ich brauchte nur ein letztes Mal mit ihm zu schlafen, um mir endgültig klar darüber zu werden, was ich wirklich will und was Melissa wirklich ist ‒ ein Monster oder ein Mensch, der fähig ist, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen.
10. Juni 2002
    Herrlich, die Schule ist aus! Meine Noten sind dieses Jahr ziemlich mies, kein Wunder, ich war faul, und meine Lehrer haben wenig getan, um mich zu verstehen. Immerhin haben sie mich versetzt, anstatt mich definitiv fertig zu machen.
    Heute Nachmittag habe ich Valerio getroffen, er hatte mich in die Bar Epoca bestellt. Ich raste sofort mit dem Mofa los, weil ich dachte, das ist die Gelegenheit, endlich zu begreifen, was ich will. Vor dem Lokal legte ich eine Vollbremsung hin, die Reife quietschten nur so auf dem Asphalt, alle starrten mich an. Valerio saß alleine an einem Tisch und verfolgte lächelnd und kopfschüttelnd meine Show. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, setzte eine ernste Miene auf und spazierte mit wiegenden Hüften auf seinen Tisch zu.
    »Loly, hast du gesehen, wie sie dir alle nachgeschaut haben?«, meinte er, als ich bei ihm war.
Ich schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich erwidere nicht alle Blicke.«
Plötzlich tauchte hinter Valerio ein mysteriös wirkender und ein wenig mürrisch aussehender Mann auf, der sich mir als Flavio vorstellte. Ich musterte ihn aufmerksam, aber er unterbrach mich dabei, indem er sagte: »Dein Mädelchen hat viel zu schlaue und viel zu schöne Augen für eine ihres Alters.«
Noch bevor Valerio etwas sagen konnte, ergriff ich selbst das Wort: »Du hast Recht, Flavio. Werden wir zu dritt sein, oder kommt noch jemand dazu?« Ich rede nicht gerne um den heißen Brei herum, Tagebuch, was soll ich Zeit mit Smalltalk und Lächeln verschwenden, wenn es sowieso nur um das eine geht?
Flavio blickte ein wenig betreten zu Valerio, und der meinte: »Sie ist ein bisschen launisch, aber du lässt ihr besser ihren Kopf.«
»Schau mal, Melissa«, fuhr Flavio daraufhin fort, »Valerio und ich würden dich gerne zu einem besonderen Abend mitnehmen; er hat mir von dir erzählt, dein Alter hat mich zunächst etwas blockiert, aber als ich erfahren habe, wie du bist ... na ja, da habe ich nachgegeben, und jetzt bin ich wahnsinnig neugierig, dich in Aktion zu erleben.«
Ich fragte ihn schlicht, wie alt er sei.
»Fünfunddreißig«, sagte er. Ich nickte, eigentlich hatte ich ihn älter geschätzt, aber ich ließ die Sache auf sich beruhen.
»Wann soll dieser besondere Abend denn steigen?«, wollte ich wissen.
»Nächsten
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