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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen
Autoren: Melissa Panarello
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Sinnlichkeit nämlich oder besser: der Geist der Sinnlichkeit. Der Geist der Liebe dagegen wird noch von dem Knoten auf der linken Seite unter Verschluss gehalten. Wenn also jemand ausschließlich die Seite der Sinnlichkeit aufknotet, wird er in mir nur die Frau sehen, das kleine Mädchen oder das ewig Weibliche schlechthin, das lediglich Sex empfangen kann, sonst nichts. Er besitzt mich nur zur Hälfte, und das ist es vermutlich, was ich im Großteil der Fälle möchte. Sollte aber jemand kommen und nur die Seite der Liebe aufknoten, so werde ich auch ihm nur einen Teil meiner selbst geben, einen winzig kleinen, wenn auch kostbaren Teil. Aber eines Tages, irgendwann in deinem Leben, begegnet dir vielleicht jener Gefängniswärter, der beide Schlüssel besitzt, der sowohl den Geist der Sinnlichkeit als auch den der Liebe von ihren Ketten befreien kann, aufdass sie wie Vögel in die Luft aufsteigen. Du fühlst dich gut, frei, in Frieden mit dir selbst, dein Geist und dein Körper sind wunschlos glücklich und haben aufgehört, dich mit ihren Bitten zu bedrängen. Eine Hand enthüllt sie einem zarten Geheimnis gleich, eine Hand, die es versteht, dich zu streicheln, dich zum Vibrieren zu bringen, und der bloße Gedanke an diese Hand erfüllt deinen Körper und deinen Geist mit Wärme.
    Jetzt riech an der Stelle, die sich genau zwischen Liebe und Sinnlichkeit befindet: Es ist meine Seele, die durch meine Säfte nach außen dringt.
    Du hattest Recht mit deiner Behauptung, ich sei zum Vögeln geboren; wie du siehst, drängt auch meine Seele danach, begehrt zu werden, und verströmt ihren Geruch, ihren Geruch nach dem ewig Weiblichen. Vielleicht ist die Hand, die Liebe und Sinnlichkeit in mir freigesetzt hat, deine Hand, Prof.
    Und ich wage zu behaupten, dass nur deine Nase in der Lage war, meine Säfte, meine Seele zu erschnuppern. Schimpf mich deshalb nicht, Prof., wenn ich mich so weit aus dem Fenster gehängt habe, ich fühle, dass ich es tun musste, ich will mir in Zukunft nicht vorwerfen müssen, etwas verloren zu haben, noch bevor ich es wirklich in Händen hielt. Dieses Etwas quietscht in meinem Innern wie eine schlecht geölte Tür, der Lärm ist ohrenbetäubend. Wenn ich mit dir zusammen bin, in deinen Armen liege, sind mein Slip und ich jeder Hemmung, jeder Fessel entledigt. Aber Liebe und Sinnlichkeit sind auf ihrem Flug gegen eine Mauer geprallt: die schreckliche und ungerechte Mauer der Zeit, die für den einen langsam, für die andere schnell vergeht ‒ eine Reihe von Zahlen, die uns nicht wirklich zueinander kommen lassen. Ich hoffe, deine mathematische Intelligenz kann dir helfen, diese komplizierte Gleichung zu lösen. Aber es ist nicht nur das: Du kennst nur einen der beiden befreiten Teile meiner selbst, und das ist nicht der Teil, den ich wachsen lassen möchte, nicht ohne den andern. Es liegt an dir, zu entscheiden, ob du unserer Beziehung eine Wende geben möchtest, ob du etwas mehr ... »Spiritualität« hineinbringen und sie dadurch ein klein wenig vertiefen möchtest. Ich vertraue auf dich.
Deine Melissa
     
23. Mai 15 Uhr 14
     
Wo ist Valerio? Warum lässt er mich alleine? Nicht mal einen Kuss ...
     
29. Mai 2002 2 Uhr 30
    Ich weine, Tagebuch, ich weine vor Freude. Ich wusste immer, dass es sie gibt, Freude und Glück. Etwas, das ich in so vielen Betten gesucht habe, bei so vielen Männern, sogar bei einer Frau, etwas, das ich in mir selbst gesucht und später aus eigenem Verschulden wieder verloren habe. Und jetzt habe ich es an einem total anonymen und banalen Ort gefunden. Und nicht etwa in einer Person, sondern im Blick einer Person. Ich wollte mit Giorgio und noch ein paar andern das neue Lokal besuchen, das genau unter uns, fünfzig Meter vom Meer entfernt, eröffnet hat. Ein arabisches Lokal mit bauchtanzenden Kellnerinnen, Teppichen und Kissen auf dem Boden, Kerzenlicht und Räucherstäbchenduft. Da es knallvoll war, beschlossen wir zu warten, dass ein Tisch frei wird. Ich lehnte an einer Laterne und dachte an das Telefongespräch mit Fabrizio, das schlecht ausgegangen war; ich habe ihm gesagt, dass ich nichts von ihm will, dass ich ihn nicht wieder sehen möchte.
    Er brach in Tränen aus und sagte, dass ich alles von ihm bekäme; was er damit meinte, war aber: Geld, Geld, Geld.
»Wenn es das ist, was du einem Menschen geben möchtest, dann bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich danke dir trotzdem für das freundliche Angebot«, erwiderte ich ironisch und legte einfach auf;
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