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Mit falschem Stolz

Mit falschem Stolz

Titel: Mit falschem Stolz
Autoren: Andrea Schacht
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Ausbildung, auch die chirurgische Technik zu meistern, und bisher hatte er die kleineren Operationen recht gut erledigt. Das heute war neu für ihn. Aber er hatte geübt – in der Küche seiner Schwester: Unter Hildas kritischen Augen hatte er Hühnerbeine, Schweinshaxen und Lammkeulen seziert. Er hatte die anatomischen Schriften studiert und wusste, wie die Muskeln aufgebaut waren, wo Knochen und Adern verliefen.
    Doch ein Schweineschinken war totes Fleisch. Das, was hier vor ihm lag, gehörte einem lebenden Menschen. Und ein solcher hatte Gefühle – und er spürte den Schmerz.
    Unseligerweise besaß Marian die Gabe, sich in den Schmerz eines anderen einfühlen zu können, und es kostete ihn große Willensanstrengung und den erflehten Beistand Marias, der Trösterin der Kranken, sich davor zu wappnen. Zunächst aber half ihm die Gabe, die Quelle des dauerhaften Stechens aufzuspüren, die die eingewachsene Pfeilspitze verursachte. Er markierte die Stelle mit einem feinen Schnitt der scharfen Klinge und sah zu seinem Lehrmeister auf. Der nickte ermutigend.
    »Macht Ihr bald mal?«, grollte der Patient.
    »Sofort«, sagte Pitter.
    Und Marian senkte das Messer in das Fleisch.
    Es war im Grunde eine kurze Operation. Der Fremdkörper war schnell gefunden, extrahiert, die Wunde mit einer gebogenen Nadel und einer Sehne genäht, mit blutstillendem Pulver versehen und fest verbunden. Aber als es vorüber war, zitterte Marian. Pitter scheuchte ihn aus dem Raum, und dankbar wusch er sich die blutigen Hände in dem Becken, das Susi, Pitters Schwester und Baderin, ihm reichte. Auch den Becher gewürzten Apfelwein nahm er entgegen und tat einen großen Schluck.
    »Ihr müsst das nicht tun, Herr Marian«, meinte Susi und streichelte seinen Arm.
    »Ich muss es nicht, aber ich will es.«
    »Ihr seid stur.«
    Marian grinste leicht.
    »Ich bin eigentlich feige.«
    »Ohne Zweifel. Habt Ihr Euren Eltern inzwischen erzählt, was Ihr hier in unserer Badestube treibt, oder gaukelt Ihr ihnen noch immer übertriebenes Reinlichkeitsbedürfnis vor?«
    Marian biss sich auf die Unterlippe. Ja, er war wirklich feige. Er hatte es seinem Vater noch immer nicht gestanden. Ivo vom Spiegel war zwar einverstanden damit, dass sein Sohn sich zu einem Heiler ausbilden ließ und nicht als sein Nachfolger in den weit verzweigten Geschäften des Handelshauses tätig werden wollte, aber weder seinen Abstecher in die Hebammenkunst, die er als Weib verkleidet erlernt hatte, noch seine Lehre bei dem Henker hatte er gutgeheißen. Das Erlernen der Arzneimittel hingegen hatte er für nützlich erachtet, die Tätigkeit als Barbier, so fürchtete Marian, würde sein äußerstes Missfallen erregen, auch wenn Pitter zu Ivos persönlichen Freunden gehörte.
    Und das Missfallen des Herrn vom Spiegel war etwas, das Marian mehr als fürchtete.
    Weil er seinen Vater liebte und weil er sich sicher war, dass er dessen hohen Ansprüchen nie genügen würde.
    Darum war er feige, und deshalb nuschelte er auf Susis Frage auch nur: »Mein Vater weilt auf dem Gut. Er überwacht das Keltern der Trauben.«
    »Und Eure Frau Mutter?«
    »Führt die Geschäfte. Ich sehe sie kaum.«
    »Feigling!«
    »Sag ich doch.«
    Eine Weile blieb Marian in dem Kämmerchen sitzen und blies ein wenig Trübsal. Sosehr er sich auch nach seiner letzten Handelsfahrt gewünscht hatte, nie wieder reisen zu müssen, nie wieder solchen Grausamkeiten ausgesetzt zu sein wie dem Überfall, der auf die Händlergruppe ausgeübt worden war, der er angehört hatte – die Entscheidung, das medizinische Handwerk zu erlernen, hatte inzwischen ein, zwei Risse bekommen. Und als er im Frühjahr nach Deventer gereist war, um seinen Freund John of Lynne, der verwundet aus der Hand der Piraten entkommen war, nach Hause zu bringen, hatte er bemerkt, dass das Reisen doch keine so große Last darstellte. Er wusste nur zu gut, wie sehr sein Vater sich wünschte, dass er dessen Aufgabe als Fernkaufmann übernehmen würde. Alle, die Ivo vom Spiegel bisher als mögliche Nachfolger in Betracht gezogen hatte, waren nach kurzer Zeit von ihm mit mehr oder weniger deutlichen, häufig aber auch vernichtenden Worten des Kontors verwiesen worden.
    »Mist, Maria!«, flüsterte Marian. Diesen heftigen Ausruf hatte er seiner Mutter abgelauscht. Frau Almut pflegte ein vertrautes Verhältnis zur Gottesmutter, in dem sie auch vor deutlichen Worten nicht zurückschreckte. Maria schien es mit Langmut zu ertragen, und er wusste ganz genau, dass
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