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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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Quatsch, Scottie. Ich kann das doch auch sonst nicht, und du behandelst mich wie einen besoffenen Autofahrer.«
    »Tu, was sie dir sagt!«, schrie Joanie. Sie schreit mich immer an, aber das ist einfach unser Umgangston. Sie schreit, und ich fühle mich unfähig und geliebt. »Fass dir an die Nase und steh auf einem Bein.«
    Ich rührte mich nicht, aus Protest. Ich ahnte, dass etwas nicht stimmte, aber ich wollte auf gar keinen Fall ins Krankenhaus. Ich wollte, dass das, was in meinem Körper aus dem Lot geraten war, sich von selbst wieder einrenkte. Aber ich fühlte mich komisch und konnte den Kopf nicht gerade halten. »Es geht mir gut.«
    »Das glaubst du ja selbst nicht«, sagte Joanie.
    Sie hatte natürlich recht. »Du hast recht«, sagte ich. Aber ich konnte mir genau vorstellen, wie es im Krankenhaus ablaufen würde: Der Arzt sagt: »Sie sind verletzt«, und dann verlangt er mindestens tausend Dollar von mir, macht lauter unnötige Untersuchungen, gibt mir unpräzise, übervorsichtige Ratschläge, damit ich ihn ja nicht verklage, und anschließend muss ich mich mit der Versicherung herumschlagen, die absichtlich irgendwelche Unterlagen verschlampt, woraufhin das Krankenhaus mir Mahnungen schickt. Danach muss ich dauernd am Telefon mit Leuten verhandeln, die nicht mal einen anständigen Schulabschluss haben. Jetzt bin ich ebenfalls skeptisch. Die schnell redende Neurologin und unser Neurochirurg sagen, dass sie nur die Sauerstoffwerte halten müssen und die Schwellung im Gehirn kontrollieren. Das klingt simpel. Um jemanden kontinuierlich mit Sauerstoff zu versorgen - dafür braucht man doch keinen Chirurgen, oder? Ich erklärte Joanie damals, wie ich über Ärzte denke, und rieb mir dabei die rechte Kopfhälfte.
    »Aber schau dich doch an!«, rief Joanie. Ich blickte auf ein Gemälde an unserer Wand. Ein toter Fisch. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wo wir es gekauft hatten, versuchte den Namen des Malers zu entziffern: Brady Churkill? Churchill?
    »Du kannst ja nicht mal geradeaus gucken«, sagte sie.
    »Wie soll ich mich dann anschauen?«
    »Halt die Klappe, Matt. Hol deine Sachen und steig ins Auto.«
    Ich holte meine Sachen und stieg ins Auto.
    Wie sich herausstellte, hatte ich den vierten Nerv verletzt - das ist der Nerv, der die Augen mit dem Gehirn verbindet. Deshalb hatte ich nichts mehr richtig scharf gesehen.
    »Du hättest sterben können«, sagt Scottie jetzt.
    »Stimmt doch gar nicht«, entgegne ich. »Der vierte Nerv - wer braucht den schon?«
    »Du hast gelogen. Du hast gesagt, es ist alles okay. Du hast behauptet, du siehst meine Finger.«
    »Ich habe nicht gelogen. Ich habe richtig geraten. Und ich hatte kurzfristig Zwillinge. Zwei Scotties.«
    Sie kneift die Augen zusammen und wägt ab, wie sie meine Antwort finden soll.
    Ich erinnere mich, dass Joanie, als ich im Krankenhaus lag, mir Wodka über die Götterspeise gekippt hat. Sie trug meine Augenklappe, kletterte zu mir ins Krankenhausbett und machte mit mir einen Mittagsschlaf. Das war schön. Es war das letzte wirklich Schöne, was wir gemeinsam gemacht haben.
    Ich habe den unangenehmen Verdacht, dass sie in einen anderen Mann verliebt ist oder war. Als sie ins Queen’s Hospital eingeliefert wurde, habe ich in ihrem Geldbeutel nach der Versicherungskarte gesucht und dabei eine Nachricht gefunden, ein kleines Stück hellblaue Pappe, ideal für heimliche Botschaften. Auf dem blauen Kärtchen stand: Ich denke an dich.Wir sehen uns im Indigo .
    Vielleicht war die Nachricht schon Jahre alt. Joanie findet immer verblasste Quittungen von Ferienreisen, die ewig zurückliegen, Visitenkarten von Geschäften, die es längst nicht mehr gibt, Kinokarten für Waterworld oder Glory . Das Kärtchen könnte von einem ihrer schwulen Model-Freunde stammen. Die reden permanent so charmantes Zeug, und die Farbe würde auch passen: feminines Tiffany-Blau. Ich schob den Verdacht erst mal weg und bemühe mich seither, nicht daran zu denken, aber in den letzten Tagen fallen mir immer wieder ihre Schwindeleien und ihre Flirtbesessenheit ein - und dass sie Unmengen trinken kann und wohin das Trinken führt und wie oft sie abends mit ihren Freundinnen loszieht -, und sobald ich daran denke, erscheint mir eine Affäre durchaus möglich, wenn nicht sogar unvermeidlich. Ich vergesse, dass Joanie sieben Jahre jünger ist als ich. Ich vergesse, dass sie ständig Bestätigung und Unterhaltung sucht. Sie braucht das Gefühl, begehrt zu sein, und ich bin oft zu
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