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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming
Autoren: Douglas Coupland
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»Anschnallen«-Zeichen erloschen, und die Flugbegleiter  warfen den Passagieren lustlos Päckchen mit Rauchmandeln zu. Wie gleichgültig den Fluggesellschaften heutzutage das leibliche Wohl ihrer Gäste ist, dachte Susan, die auf den Coast-to-Coast-Flügen der ehemaligen MGM Grand einst von allen hofiert worden war. Sie hatte mit Nick Nolte Poker gespielt, sich gemeinsam mit Eartha Kitt die Fußnägel poliert und mit Roddy McDowell Klatschgeschichten ausgetauscht. Jetzt, auf dem Flug 802, stürzten sich alle Passagiere gleichzeitig auf die Nüsse, das ganze Flugzeug war von einem hektischen Kauen erfüllt, einem Geräusch wie von Heuschrecken, woraufhin sich der salzige Lösungsmittelgeruch von zermalmten Nüssen entfaltete. Ah, der Sündenfall.
    Susan blickte von ihrem Fensterplatz, 58-A, teilnahmslos auf die Landschaft hinunter. Links von ihr saß ein älteres Pärchen - er war irgendeine Art Ingenieur und sie eine verhuschte 50er-Jahre-Ehefrau. Mr. Ingenieur war überzeugt, dass sie gerade über Jamestown, New York, hinwegflogen, »den Geburtsort von Lucille Ball«. Er machte einen langen Hals und zeigte auf etwas, das aussah wie jede andere amerikanische Stadt, in der man Tide-Waschmittel kaufte und Campbell's-Suppe aß und die mindestens einmal pro Jahrzehnt durch einen bizarren, sinnlosen Mord in die Schlagzeilen kam. Später sollte Susan sich eine Karte der amerikanischen Oststaaten ansehen und feststellen, wie absolut falsch der Ingenieur gelegen hatte, aber damals spähte sie in der völlig abwegigen, einfältigen Hoffnung nach unten, einen klitzekleinen Fleck flammend roter Haare zu entdecken.
    In diesem Moment explodierte das Triebwerk - das linke, genau vor Susans Augen. Wie bei einer Popcorn-Maschine wurde die Detonation - wump! — durch den Flugzeugrumpf gedämpft. Der Rückstoß ließ die Flugbegleiter und ihre Getränkewagen auf die Sitze zu beiden Seiten des Ganges purzeln, während Sauerstoffmasken wie Eidechsenzungen von der Decke fielen. Die Maschine geriet ins Trudeln, und die Passagiere, die wie Susan nicht angeschnallt waren, schwebten für einen Augenblick wie Kolibris in der Luft. Sie dachte: Ich kann fliegen. Und dann: Ich bin eine Astronautin. Alles ging viel zu schnell, als dass Panik ausbrechen konnte. Manche stöhnten beim unvermittelten Absacken der Maschine auf, andere fluchten, aber niemand wurde hysterisch, und auch sonst war kaum etwas zu hören.
    Dann brachte der Pilot das Flugzeug wieder unter Kontrolle, und als er die Zügel straffte, war es, als machte es eine Bauchlandung auf einer Betonpiste. Die Sauerstoffschläuche wogten hin und her wie Wasserlilien in einem Zeichentrickfilm, und auf den Bildschirmen lief wieder Cheers. Die nächsten zwei Minuten vergingen, als wäre nichts passiert. Susan fand es irgendwie beruhigend, dass Mr. Ingenieur seiner Frau detailliert erläuterte, weshalb die Maschine flugfähig bleiben würde.
    Dann begannen sie von neuem zu sinken, ein Sinkflug, so lang wie ein Song im Radio, ein unkontrolliertes Schweben der Erde entgegen - lautlos und erschütterungsfrei. Susan bildete sich ein, die anderen Passagiere müssten ihr die Schuld an dem Absturz geben, als hätte sie ihren Flug verhext - sie, ein drittklassiger Star, hatte ein Klatschpresseunglück über eine Reise gebracht, die sonst reine Routine gewesen wäre. Sie vermied es, sie anzusehen, und legte ihren Sicherheitsgurt an. Sie fühlte sich verkrampft und mürbe. Sie dachte: Das ist also das Ende: Ein Absturz über Lucys Heimatstadt, inmitten von alten Fernsehserien, verschütteten Getränken und ächzenden Triebwerken. Sobald die Maschine auf dem Boden aufschlägt, werde ich nicht mehr ich sein. Ich werde zu dem werden, was als nächstes kommt.
    Sie staunte, wie erleichtert sie war, dass die Schnur, auf die sie im Laufe ihres Lebens all ihre gescheiterten Identitäten wie Plastikperlen aufgefädelt hatte, endlich gekappt wurde. Vielleicht werde ich die Augen aufschlagen und feststellen, dass ich gerade aus einem Vogelei schlüpfe, wiedergeboren als Kardinal. Vielleicht werde ich Jesus treffen. Aber was auch immer passiert, ich bin aus der Sache raus. Was auch immer passiert, ich muss nie wieder eine Versagerin, eine Marionette oder eine ehemalige Berühmtheit sein, die die Menschen hassen, lieben oder für alles Mögliche verantwortlich machen können. Dann gab es einen plötzlichen Ruck wie in der Achterbahn, und die Maschine pflügte durch die Luft, prallte auf dem Boden auf und bohrte
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