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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming
Autoren: Douglas Coupland
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sich in die Erde. Das Getöse war so laut, dass es alle anderen Empfindungen übertönte. Die Bilder kamen ihr in schneller Folge entgegen wie Schnappschüsse: Leiber, Erdbrocken und Gepäckstücke, die ihr um die Ohren flogen, als würden sie von einem Häcksler in die Luft geschleudert - das Kreischen von geschundenem Metall und Pressluft. Und dann Stille.
    Ihr Sitz war zusammen mit einem Teil des Flugzeugrumpfs zum Stehen gekommen. Der Ingenieur, seine Frau und ihre beiden Sessel waren - weg. Susans Sitz war als Einziger übrig geblieben und stand mit dem dazugehörigen Wrackteil verschraubt kerzengerade da. Etwa eine Minute lang war sie wie erstarrt. Rechts von ihr schwebte in einiger Entfernung ein kleines Rauchwölkchen empor. Treibstoffgeruch stieg ihr in die Nase. Behutsam löste sie den Sicherheitsgurt von Sitz 58-A, stand auf und sah ein gelblich braunes Hirsefeld vor sich. Eine kurze Inspektion ihres Körpers ergab, dass sie keinen Kratzer abbekommen hatte, doch schien es, dass alle anderen Passagiere zerschmettert, verkohlt und zerfetzt entlang einer Trümmerspur lagen, die sich eine halbe Meile über das von Siedlungshäusern gesäumte Hirsefeld erstreckte. Nachdem die Maschine auf dem Boden aufgeschlagen war, geschah einen Moment lang nichts, bevor die Menschen aus dem Vorort zur Unglücksstelle strömten. In diesem Moment hatte Susan das gesamte Flugzeug und die zerquetschten Passagiere ganz für sich allein, wie ein Museum an einem verregneten Dienstagnachmittag. Die Leichen um sie herum sahen aus, als wären sie aus einer Sprühdose auf den Flugzeugrumpf und das von tiefen Furchen durchzogene Hirsefeld geschäumt worden.
    Ein Haufen nicht erhitzter Fertiggerichte in Alufolie bedeckte die Beine einer Stewardess. Gepäckstücke waren wie Knallfrösche aufgeplatzt und mit Erde, Wurzeln und Löwenzahn vermischt, und überall lagen Popcorn-Becher und Courvoisier-Flaschen herum wie heruntergefallene Murmeln. Susan machte sich auf die Suche nach anderen Überlebenden. Sie stieß auf verstümmelte Gliedmaßen und Köpfe. Der rußbedeckte Flugzeugrumpf enthielt einen Klafter tote Passagiere. Sie kam sich vor wie ein Geist. Sie suchte in den Trümmern nach ihren sterblichen Überresten, doch sie fand nichts. Sie bekam Angst, dass die Beziehung zwischen ihrem Verstand und ihrem Körper Schaden genommen hatte. Ein paar halbwüchsige Jungen auf Fahrrädern waren die Ersten, die die Unglücksstelle erreichten. Sie warfen ihre Räder hin und begannen, wie Schlafwandler um das Wrack herumzugehen. Sie sahen so jung und lebendig aus. Susan ging auf sie zu, und einer von ihnen rief: »He, haben Sie das gesehen?! Haben Sie gesehen, wie's runtergekommen ist?«, worauf Susan nickte, weil ihr klar wurde, dass die Jungs in ihr weder ein Absturzopfer noch den Fernsehstar erkannten. Dann war sie plötzlich von einer Meute Schaulustiger aus dem Ort, von Lastwagen, schrillen Sirenen und Krankenwagen umgeben. Sie bahnte sich ihren Weg aus dem Gedränge und erreichte eine frisch geteerte Vorortstraße, auf der sie sich von dem Wrack entfernte, bis sie zu der Wohnsiedlung gelangte. Sie hatte überlebt, und jetzt brauchte sie ein Dach über dem Kopf und Ruhe.
    Sie warf einen Blick auf die Straßennamen: Bryn Mawr Way, Appaloosa Street, Cornflower Road. Nachdem sie Letztere ein kurzes Stück entlanggegangen war, vorbei an frisch umgegrabenen Beeten und jungen Bäumen, sah sie ein neu erbautes Einfamilienhaus, auf dessen Eingangstreppe sich ein kleiner Stapel Zeitungen angesammelt hatte. Sie ging zur Tür, klingelte und spürte, wie sich ihre Schultern entspannten, als niemand aufmachte. Sie lugte durchs Fenster und sah ein kühles, stilles, bürgerliches Schlafzimmer, so friedlich und einladend, wie die Schatzkammer von König Tut ihren Entdeckern erschienen sein musste. Eine Ruhe überkam sie, die sie daran erinnerte, wie sie als Kind auf dem Rücksitz des Corvairs ihrer Eltern gesessen und durch das Glasdach zu den Sternen emporgesehen hatte -etwas Glamouröseres konnte sie sich nicht vorstellen. Sie versuchte die Haustür zu öffnen, aber die war abgeschlossen. Die Garagentür an der Seite des Hauses war ebenfalls verriegelt, und so versuchte sie es an der Schiebetür zur Küche, jedoch ohne Erfolg. Mit einem pfirsichgroßen Stein schlug sie ein Loch in die Scheibe, schob den Riegel zurück und trat in die Küche. Rasch sah sie sich nach einer Alarmanlage um - durch das Leben in Hollywood kannte sie sich mit so etwas aus -, aber
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