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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming
Autoren: Douglas Coupland
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macht mir total Angst. Haben Sie auch manchmal solche Gedanken?«
    »Wissen Sie, John, das Leben hat mir das ein oder andere Schnippchen geschlagen, daher grübele ich über den Wiederholungsfaktor nicht allzu viel nach. Aber: Ja, ich habe auch solche Gedanken. Jeden Tag sogar.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Jedenfalls werde ich heute achtundzwanzig.« John strahlte. »Herzlichen Glückwunsch, Susan!« Dann schüttelte er ihr mit übertriebener Herzlichkeit die Hand, doch insgeheim kostete er die Kühle ihrer Handfläche aus, die sich anfühlte wie eine Salbe auf einer Brandwunde, von der er bis dahin nichts gewusst hatte.
    Es war für beide so ungewohnt, zu Fuß durch ihre Stadt zu schlendern, anstatt in klimatisierten Metallnestern hindurchzubrausen, dass sie jeden Schritt wie etwas Irreales empfanden. Sie hörten, wie die Autos, die zum Beverly Center fuhren, den Gang wechselten. Sie lauschten Vogelrufen und dem Rascheln der Zweige. John fühlte sich so jung, als ging er wieder zur Schule.
    »Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist - einfach so aus dem Restaurant zu verschwinden?«, fragte Susan. »Na?«, antwortete John.
    »Als würden wir zusammen von zu Hause ausreißen.«
    Sie überquerten in gleißender Sonne eine Kreuzung. Ein Latino mit einem goldenen Schneidezahn verkaufte Stadtpläne, auf denen die Häuser der Stars verzeichnet waren. John fragte Susan: »Waren Sie jemals auf so einem Ding?«
    »Auf einem Promi-Stadtplan? Einmal, ungefähr zwei Jahre lang. In der Neuauflage bin ich dann wieder gelöscht worden.
    Ständig schlichen Autos im Schneckentempo an meiner Wohnung vorbei und gaben dann unvermittelt wieder Gas - Tag und Nacht. Es war das Gespenstischste, was ich je erlebt habe. Das Haus war gut gesichert, aber trotzdem habe ich mich ein paar Mal so gegruselt, dass ich bei einer Freundin übernachtet habe. Und Sie?«
    »Ich bin kein Star.« In dem Moment fuhr das Oscar-Mayer-Würstchenmobil vorbei, und um sie herum hupten überall Autos, als wäre es eine Hochzeitskutsche. John nahm seinen ganzen Mumm zusammen und fragte: »Susan - Sue - wo wir gerade von Launen des Schicksals sprechen, möchte ich Sie etwas fragen: Glauben Sie, dass Sie mir schon mal begegnet sind?«
    Susan machte ein so nachdenkliches Gesicht, als wolle sie ihre Antwort bei einem Rechtschreibwettbewerb buchstabieren. »Ich habe Zeitschriftenartikel über Sie gelesen. Und ich habe mal etwas über Sie im Fernsehen gesehen. Es tut mir Leid, dass Sie so ein Pech hatten - als Sie damals abgehauen sind und versucht haben, sich zu ändern oder was auch immer Sie vorhatten. Tut mir wirklich Leid.« Der Tumult um das Würstchenmobil hatte sich wieder gelegt, und Susan baute sich vor John auf und musterte ihn prüfend. In seinem Blick lag etwas Sonderbares, als habe er gerade eine Riesensumme verloren und sei kurz davor, das Casirto zu verlassen. »Ich meine, ich bin es auch ziemlich leid, ›ich ‹ zu sein. Ich kann Ihnen das nachfühlen.« John machte eine Bewegung, als wolle er sie küssen, aber da quietschten hinter ihnen wütend die Reifen zweier Autos. Sie drehten sich um und setzten ihren Spaziergang fort. »Sie waren mal Schönheitskönigin, nicht wahr?«, fragte John, »Miss Wyoming.«
    »O Gott, ja. Ich habe an diesem Misswahlen-Zirkus teilgenommen, seit ich ein halbes Jahr älter als JonBenet Ramsey war, also vier. Außerdem war ich TV-Kinderstar, abgehalfterte Schauspielerin, Rock V Roll-Braut, Überlebende eines Flugzeugabsturzes und geheimnisumwobenes Faszinosum.«
    »Gefällt es Ihnen, so viele verschiedene Dinge gewesen zu sein?«
    Es dauerte eine Sekunde, bis Susan antwortete. »So habe ich das noch nie gesehen. Ja. Nein. Wollen Sie damit sagen, dass man auch anders leben kann?« 
    »Keine Ahnung«, sagte John.
    Sie überquerten den San Vicente Boulevard und kamen an Gebäuden und Straßen vorbei, die für sie früher einmal mit allen möglichen Geschichten verbunden gewesen waren. Jetzt schien ihnen das alles so wenig zu ihrem Leben zu gehören wie die Schaufensterdekorationen. Jeder von ihnen hatte Erinnerungen an ein unangenehmes Meeting hier, einen eingelösten Scheck dort, ein Essen ... John fragte: »Woher kommen Sie eigentlich?« 
    »Ich stamme aus einer Familie von Hillbillys. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie lebten in den Bergen von Oregon. Die reinsten Neandertaler. Wenn meine Mutter nicht die Flucht ergriffen hätte, wäre ich jetzt vermutlich zum siebten Mal von meinem eigenen Bruder schwanger - und
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