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Mirad 03 - Das Wasser von Silmao

Titel: Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Autoren: Ralf Isau
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war durchaus angebracht, denn sie konnten sich keinen Fehlversuch leisten. Niemand von ihnen hatte je dergleichen getan. Der kleinste Fehler und sie würden alle sterben.
    »Bereit«, flüsterte Ergil schließlich.
    »Bereit«, wiederholten Jazzar-fajim und Lohentuvim leise.
    Schon längst, sagte Nisrahs Gedankenstimme.
    »Auf drei«, raunte der König und begann langsam zu zählen. »Eins… Zwei… Drei!«
    Einige Atemzüge schien nichts zu geschehen. In der Festung unten ahnte niemand, dass die Fundamente der Mauern und Gebäude mit einem Mal rasend schnell alterten und dabei die Konsistenz von losem Sand annahmen. Ohne die geringste Vorankündigung brach der, ohnehin morsche, Nordwestturm in sich zusammen. Im Burghof kam Unruhe auf. Soldaten liefen panisch vor den Staubwolken davon. Die drei Männer auf der Spitze des Knochenturmes vernahmen die aufgeregten Stimmen unter sich nur als leises Gemurmel. Aber keiner öffnete die Augen. Ihr Werk war noch nicht vollendet.
    Plötzlich erbebte die Klippe unter einem gewaltigen Donner. Es war mehr als ein Krachen, wie es ein Blitzeinschlag verursacht hätte, es war ein sich steigerndes Getöse. Dann stürzten, als hätte ein unsichtbarer Riese mit seiner Pranke auf die Klippe geschlagen, sämtliche Bauwerke zusammen und begruben jeden unter sich, der sich in ihrer Nähe befand.
    Eine gigantische Staubwolke breitete sich wie ein graues Leichentuch über das Felsplateau. Nur der Knochenturm ragte noch daraus hervor.
    Ergil fühlte sich unendlich müde, während er in die Halle des schlafenden Glanzes hinabstieg. Er wurde von Jazzar-fajim und Lohentuvim begleitet, die auch ziemlich erschöpft wirkten. Zwei andere Sirilim, deren Namen er nicht kannte, trugen den immer noch bewusstlosen Tusan auf einer Trage durch die Tunnel. Außerdem gehörten noch Múria und Schekira zu der kleinen Truppe.
    Mechanisch streichelte Ergil das Federkleid der kleinen Eule auf seiner Schulter. Er fühlte sich so leer. So schuldig! Warum hatte man ihn nur gezwungen, diese schreckliche Tat zu verüben! Gerne hätte er um die Opfer geweint. Nicht nur um die hunderte, vielleicht sogar tausende, die er persönlich mit dem Einsturz der Festung aus dem Leben geworfen hatte, sondern auch um die vielen anderen, die seit Wikanders Verrat gestorben waren. Aber er konnte es nicht. Es waren keine Tränen mehr übrig. Keine Gefühle mehr. Nur eine entsetzliche Leere.
    Irgendwie kam er sich selbst vor wie ein lebender Toter, der in sein Grab hinabstieg. Keiner von denen, die oben überlebt hatten, würde ihn und seine Getreuen so schnell ausgraben. Der Zugang zu den Gewölben war fest verschlossen. Mithilfe Nisrahs und der beiden Sirilim hatte er den Fels unter dem Knochenturm in einen uralten Zustand zurückversetzt – zuletzt war er vor dem Bau des Turmes so massiv gewesen.
    Schließlich erreichten sie Gandarin-helel, die Halle des schlafenden Glanzes. Nishigo kam Ergil entgegen und umarmte ihn. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, dass doch noch nicht alles in ihm erstorben war. Gemeinsam begaben sie sich zu Vania. Inzwischen hatte man ihr eine benachbarte Höhle als Privatgemach hergerichtet. Sie saß aufrecht auf ihrem Feldbett. Als sie ihren Sohn erblickte, wirkte sie erschrocken. Er löste sich aus Nishigos Umklammerung, setzte sich zu seiner Mutter und ergriff ihre Hand.
    »Was ist geschehen?«, fragte Vania.
    Er berichtete es ihr.
    Sie zog ihn zu sich heran, damit er seine Wange an ihre Brust legte, und streichelte sein Haar. »Ich wünschte, diese schreckliche Erfahrung wäre dir erspart geblieben, mein Sohn.«
    Ergil begann haltlos zu weinen. Nishigo setzte sich neben ihn und tätschelte seinen Rücken.
    »Ich bin ein Mörder«, schluchzte er.
    »Nein«, widersprach Vania. »Du hast das Leben all der Menschen und Sirilim gerettet, die hierher geflohen sind.«
    »Aber ich habe die Soldaten in der Burg getötet. So viele!«
    »Sie sind nicht nach Soodland gekommen, um mit dir zu speisen, Ergil. Nicht du bist der Verräter gewesen. Wenn jemand die Verantwortung für all das Blutvergießen trägt, dann Entrin, Godebar, Hjalgord, Hilko – und jener böse Geist, von dem sie sich haben aufstacheln lassen.«
    »Ich bin nicht würdig, ein König zu sein«, widersprach Ergil müde.
    Seine Mutter nahm seinen Kopf zwischen die Hände, blickte ihm fest in die Augen und sagte: »Wenn nicht du, mein Sohn, wer dann?«
     
     
    Achthundertfünfundzwanzig. Das war das Ergebnis, das Borsts Zählung der Überlebenden
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