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Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition)
Autoren: David Almond
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nichts mehr. Sie ist kein Roboter. Sie ist ein kleines Mädchen, das erwachsen wird und sehr gut ohne Ihre blöden Tabletten auskommt!“
    Mina ging in die Sankt-Beda-Schule, die ganz in der Nähe des Parks lag. Es war ein Montagmorgen im Frühling. Im Unterricht ging es um Geschichte. Der Lehrer, Mr Henderson, sprach über die Geschichte der Stadt. Er sagte, dass es früher am Rand der Stadt viele Kohlenminen gegeben hatte. Jahrhundertelang waren Männer und Jungen tief in die Erde hinabgestiegen, um Kohle auszugraben.
    „Stellt euch das mal vor“, sagte er. Er lachte. „Stellt euch vor, ihr würdet in die schwarze Dunkelheit steigen und Zeug ans Tageslicht bringen, das so schwarz ist wie Mina McKees Haar“. Er sagte, dass man direkt unter dem Klassenzimmer, tief in der Erde, auf ein Labyrinth aus Schächten und Tunneln stoßen würde. Seine Augen weiteten sich. Vielleicht würden sie sogar Knochen von Menschen finden, die dort unten gestorben waren. Er erzählte, dass das Kohlenschürfen früher sehr gefährlich gewesen war. Aber die Menschen hatten zusammen gelebt und zusammen gearbeitet, hatten ihr Leid und ihre Freude miteinander geteilt.
    Er las ihnen Gedichte über Bergleute vor, spielte ihnen Bergarbeiter-Lieder von einer CD vor und sang sogar selbst ein paar Lieder. Er erzählte, dass sein Großvater ein Kohlenmann gewesen sei und dass er mit den Geschichten über die Unterwelt aufgewachsen sei, über die Männer, die jeden Tag in die Tiefe stiegen, über die Ponys, die dort unten lebten, und über die Geister, die manche dort gesehen haben wollen.
    Er zeigte ihnen Karten von der Stadt, wie sie früher ausgesehen hatte. Einige Schächte drangen hundert Meter tief in die Erde. Tunnel krochen vom Rand der Stadt in Richtung ihres Herzens. Er erzählte, dass sich ganz in der Nähe der Schule, im Heston Park, der Eingang zu einem Tunnel befand, durch den früher die Kohle aus den Minen zum Fluss gebracht worden waren. Er sagte, dass der Tunnel wieder instand gesetzt wurde. Man hatte vor, ihn für Touristen und für Historiker zu öffnen, die sich für die Stadtgeschichte interessierten. Wenn er geöffnet würde, sagte er, würden wir vielleicht einen Klassenausflug zu diesem Tunnel machen. Und dann war der Unterricht zu Ende.
    Mina kannte den Eingang und den Tunnel. Sie hatte das uralte, massive Eisentor hinter den Rhododendronbüschen entdeckt. Sie hatte das Stahlgitter gesehen, das vor dem Tor angebracht war, und dann vor einigen Tagen festgestellt, dass das Gitter weg war. Nun gingen Männer mit Schutzhelmen und großen Taschenlampen im Tunnel aus und ein. Am Eingang prangten zwei neue Schilder. Auf dem einen stand: BETRETEN VERBOTEN ! Und auf dem anderen, einem gelben Dreieck, war ein dickes schwarzes Ausrufezeichen zu sehen.
    In Minas Gedanken vermischten sich das Tor, der Tunnel und Mr Hendersons Erzählungen mit vielen anderen Geschichten, die sie kannte – Geschichten aus alter Zeit von Helden und Heldinnen, die in der Unterwelt lebten: von Dädalus, der ein unterirdisches Labyrinth erschuf, in dem ein Ungeheuer namens Minotaurus hauste, von Pluto, dem König der Unterwelt, und Persephone, seiner Frau, Geschichten über die Toten, die aus dem Leben in die Dunkelheit unter der Erde gerissen worden waren.
    All das verband sich mit einer ganz besonderen Geschichte: mit der von Orpheus, dem berühmtesten Sänger der Welt, dessen wunderschöne Frau Eurydike von einer giftigen Schlange getötet wurde. Orpheus wollte sich mit ihrem Tod nicht abfinden. Auf der Suche nach dem Eingang zur Unterwelt reiste er durch die Welt. Als er den Zugang schließlich fand, ging er hinab und bat, dass sie ihm zurückgegeben werden möge.
    Mina war damals erst neun Jahre alt, und sie war oft sehr traurig. Und obwohl sie wusste, dass es dumm war, war in ihrer Vorstellung und in ihren Träumen das Eisentor hinter den Rhododendronbüschen im Heston Park das Tor zur Unterwelt. Und sie sagte sich, dass sie es wagen würde, durch dieses Tor zu treten. Sie würde in die Unterwelt gehen wie Orpheus. Ihm war es nicht gelungen, den geliebten Menschen zurückzubringen. Aber Mina würde es gelingen. Sie würde hinabsteigen und geradewegs zu Pluto und Persephone gehen. Sie würde sie davon überzeugen, ihren Vater freizugeben, damit sie ihn wieder mit in die Welt der Lebenden nehmen konnte.
    Am folgenden Montag nach Mr Hendersons Geschichtsunterricht geschah es. Am Ende der Stunde stand er vor der Klasse und fing an zu singen.
    Leg
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