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Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition)
Autoren: David Almond
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Ambrosia essen oder so etwas Ähnliches, Gott anschauen und ihn lobpreisen und sehr, sehr, sehr brav sein. Das muss man sich mal vorstellen! GÄHN, GÄHN, GÄHN, GÄHN! Wer würde das wollen – Jahrhunderte lang, bis in alle Ewigkeit? Vielleicht jemand wie Mrs Scullery, aber ich jedenfalls nicht.
    Ich wette, dass sogar die Engel die ganze Sache langsam satthaben. Ich wette, sie würden lieber Bananen, Marmelade und Schokolade essen oder eine Wolke aus Fliegen betrachten oder auf Bäume klettern oder mit Katzen spielen. Ich wette, sie schauen auf uns herab und beneiden uns, weil wir Menschen sind. Ich wette, dass sie sich sogar manchmal wünschen, so zu sein wie wir. Allerdings könnte sie der Umstand abschrecken, dass wir sterben.
    Mittlerweile denke ich, dass ich gar nicht an einen Himmel glaube. Und ich glaube auch nicht an vollkommene Engel. Ich glaube eher, dass dies hier möglicherweise der einzige Himmel ist, den es geben kann, diese Welt, in der wir leben. Nur dass wir es noch nicht gemerkt haben. Und ich glaube, dass die einzigen Engel, die es geben kann, wahrscheinlich wir selbst sind.
    DAS HIER KÖNNTE
DER HIMMEL SEIN!
    VIELLEICHT LEBEN WIR JETZT,
    IN DIESEM AUGENBLICK, IM HIMMEL!
    UND VIELLEICHT SIND
    WIR DIE ENGEL!
    Ist das dumm? Nein, ist es nicht! Nicht wenn man sich eine Amsel anschaut, auf deren Gefieder das Sonnenlicht schimmert. Wenn aus der Schwärze Silber wird, Lila, Grün und sogar Weiß. Wenn man ihrem Lied lauscht. Wenn man sieht, wie sie in den Himmel aufsteigt. Wie sich aus Knospen Blätter entfalten. Wenn man die Stärke eines Baums fühlt, den Schlag des Herzens, Sonne auf der Haut und Wind auf den Wangen. Wenn man an Dinge wie die menschliche Stimme denkt, an das Sonnensystem, das Fell einer Katze, das Meer, Bananen, an Schnabeltiere. Wenn man die Dinge betrachtet, die wir Menschen erschaffen haben: Häuser und Asphalt, Mauern und Kirchtürme, Straßen und Autos, Lieder und Gedichte.
    Ja, ich weiß, dass all das nicht vollkommen ist. Aber Vollkommenheit wäre langweilig und Vollkommenheit ist auch gar nicht wichtig.

    Schaut euch die Welt an. Riecht sie, schmeckt sie, hört ihr zu, fühlt sie, schaut sie euch an. Schaut sie an! Ich weiß, dass schreckliche Dinge passieren, ganz ohne Grund. Warum starb mein Papa? Warum gibt es Hungersnöte, Angst, Dunkelheit und Krieg? Ich weiß es nicht. Ich bin nur ein Kind. Woher soll ich die Antwort auf diese Fragen wissen? Aber diese schreckliche Welt ist so irre schön und so irre irre, dass ich manchmal glaube, ohnmächtig zu werden.

    „Mina!“, ruft Mama. „Mina!“
    „Ich komme, Mama!“
    Ich rühre mich nicht.
    Vor dem Haus von Mr Myers, ein Stück weiter die Straße entlang, steht ein Lieferwagen. Mr Myers ist gestorben. (Noch einer! Es wird langsam Zeit, dass hier in der Gegend mal ein paar Leute geboren werden!) Er hieß Ernie und er war sehr alt. Er stand immer am Fenster und schaute hinaus. Und auch wenn man lächelte und ihm zuwinkte, konnte man nie sicher sein, ob er einen gesehen hatte oder ob er dachte, er hätte nur geträumt, dass jemand da war.
    Ich habe mich oft gefragt, was in seinem Gehirn vor sich ging. Sah er dasselbe wie alle anderen oder etwas anderes? Sah er vielleicht gar nichts? Kam ihm die Welt und ich und alle anderen darin wie ein Traum vor? Und wo wir gerade dabei sind: Sieht irgendjemand genau das, was der andere sieht? Vielleicht leben wir alle in einem merkwürdigen Traum. Aber wenn das so wäre, würden wir es natürlich nicht wissen.
    Manchmal hatte ihn ein Arzt zu Hause besucht, ein mürrisch aussehender, grauer Mensch, der einen mürrisch aussehenden, grauen Wagen fuhr. Eines Tages entdeckte der Arzt mich in meinem Baum. Ich wollte schon winken, aber er runzelte bloß die Stirn, als ob er glaubte, dass in einem Baum zu sitzen so ungefähr das Dümmste war, was man sich vorstellen konnte. Es war offensichtlich zu viel von jemandem wie ihm verlangt, jemandem wie mir zuzuwinken.
    Ha! Den würde ich nicht zum Arzt haben wollen! Bei seinem Anblick verkriecht man sich ja gleich unter der Bettdecke. Und er war wohl auch kein besonders guter Arzt. Mr Myers starb, und es dauerte fast eine Woche, bis man ihn fand. Er lag unter dem Küchentisch. Die arme Seele. Er hatte eine Tochter, aber ich glaube nicht, dass sie sich viel um ihn kümmerte.
    Sie ist gerade da und trägt einige von Mr Myers’ Habseligkeiten zu dem Lieferwagen. Richtig griesgrämig ist sie, aber so war sie schon, als Ernie noch am Leben war.
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