Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition)
Autoren: David Almond
Vom Netzwerk:
war ein guter Mensch, und er wollte das Ei weder zerbrechen, noch das Küken am Schlüpfen hindern – und weil er ein Heiliger war, dachte er vermutlich auch, dass das Ei ein Geschenk Gottes sei. Und daher blieb er so stehen, die Hände gen Himmel gestreckt (oder was er für den Himmel hielt), Tag für Tag und Nacht für Nacht, bis das Küken in seinen Händen aus dem Ei schlüpfte.
    Stellt euch mal vor: Ein winziges Küken macht seine ersten Bewegungen auf dieser Welt in euren Händen! Stellt euch die zarten Klauen vor, die nassen Flügelchen, das Tschiep! Tschiep! Tschiep! Stellt euch vor, wie es wächst, während ihr es ernährt und beschützt. Und stellt euch vor, wie es davonfliegt!
    Gerade sind am Ende der Straße ein paar Schüler von der Sankt-Beda-Schule vorbeigegangen. Sie haben mich gesehen, aber mittlerweile lachen sie nicht mehr über mich. Jetzt verdrehen sie nur noch die Augen und tuscheln miteinander und steuern auf das Tor ihres Käfigs zu. Früher haben sie mich Hexe genannt oder komische Kuh. Sie haben mir zugerufen, ich sei ein Affe oder eine Krähe. Letztes Jahr hatten sie eine Menge Spaß. Im Sommer haben sie mit Kirschen nach mir geworfen und gerufen: „Vitamina für die Mina!“ Im Herbst waren es Pflaumen, und da riefen sie: „Pflaumen für die Pflaume!“ (Was eigentlich ziemlich lustig ist, wenn man darüber nachdenkt.)
    Jetzt bin ich ein Teil der Landschaft geworden, für die Kinder wie auch für die Vögel. Ich bin wie ein Laternenpfahl oder ein Baum oder ein Stein. Mir macht das nichts aus. Sie bedeuten mir nichts. Ich schaue sie nicht einmal an. Die! Ha! HA ! Nichts!
    Das hier ist die Falconer Road. Es ist eine enge Straße, auf beiden Seiten stehen Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten. In jedem Garten steht ein einzelner Baum wie dieser hier. Die Häuser sind etwa achtzig Jahre alt. Hinter den Häusern befinden sich schmale Gassen und Garagen. Am Ende unserer Straße kommt dann die Crow Road, wo die großen alten Häuser stehen. Ein Haus dort gehört mir, besser gesagt: wird mir gehören, wenn ich erwachsen bin. Es ist ein bisschen verfallen und es leben ganz außergewöhnliche Geschöpfe darin. Danke, Großvater. Ich hebe die Augen zum Himmel. Danke, Großvater. Er hat es mir in seinem Testament hinterlassen. Noch einer, der tot ist. Wir sagen, dass er im Himmel ist, bei Papa.
    Himmel. Früher fand ich die Vorstellung vom Himmel dämlich. Ich habe über all die Menschen nachgedacht, die sterben. Der Himmel muss ja völlig überfüllt sein, dachte ich. All die Gestorbenen hätten noch nicht einmal im gesamten Universum Platz.
    „Wie groß ist der Himmel?“, fragte ich Mama eines Tages, als ich noch klein war. Am Ende der Straße hatte ich gerade einen Leichenwagen mit einem Sarg darin in Richtung des großen Friedhofs in der Jesmond Road fahren sehen, wo auch Papa begraben liegt.
    „Oh, sehr, sehr groß, glaube ich“, antwortete sie.
    Ich dachte an alle Friedhöfe auf der ganzen Welt. Ich dachte an all die Menschen, die dort begraben sind. Ich dachte an all die Menschen, die je gelebt hatten und gestorben waren, seit Tausenden und Tausenden von Jahren. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.
    „Er muss gigariesig sein!“, sagte ich.
    „Ja, ich denke schon“, sagte sie.
    Dann, ein paar Wochen später, lasen wir in einer Enzyklopädie. Darin stand, dass die Zahl aller Menschen, die seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis vor etwa fünfzig Jahren gelebt hatten, nicht so groß ist wie die Zahl der Menschen, die heute leben.

    Heutzutage leben mehr Menschen auf der Welt, als jemals Menschen in der gesamten Geschichte der Menschheit gelebt haben!
    Das hat uns beide überrascht.
    Aber erst ein paar Stunden später wurde mir klar, was das bedeutet.
    „Das heißt also“, sagte ich, „dass der Himmel eigentlich nur so groß sein muss wie die Erde.“
    „Ja“, sagte sie. „Da könntest du wohl Recht haben.“
    Und wir lachten darüber, denn verglichen mit der Größe des Universums ist die Erde überhaupt nicht groß. Und selbst die Erde ist noch nicht überfüllt. Es gibt noch Platz für viel mehr Körper, genauso wie es im Himmel noch Platz für viel mehr Seelen gibt.
    Heute glaube ich allerdings nicht mehr daran. Ich glaube zwar immer noch, dass die Vorstellung von einem Himmel dämlich ist, aber aus anderen Gründen. Wenn die Menschen versuchen zu erklären, wie der Himmel beschaffen ist, klingt das tod-tod-todlangweilig. Herumstehen und singen und Nektar trinken und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher