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Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition)
Autoren: David Almond
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nichts.
    „Ich heiße Mina“, flüsterte sie vor sich hin, und ihre Worte flogen als Echo zu ihr zurück. „Ich heiße Mina. Ich bin sehr mutig.“
    Aus der Ferne erklang ein dumpfes Brüllen. Sie blieb stehen und lauschte. Vielleicht war es Wasser – oder war es vielleicht das Schreien und Stöhnen der Toten?
    „Ich heiße Mina. Ich bin sehr mutig. Ich heiße …“
    Etwas streifte ihr Bein. Sie machte einen Satz zur Seite und schrie entsetzt auf. Dann schaute sie nach unten und sah eine schwarze Katze, die ihr um die Beine strich.
    „Eine Katze!“, keuchte sie. „Eine Katze!“
    Immer noch am ganzen Leib zitternd, beugte sie sich hinab. Sie streichelte den dichten dunklen Pelz und fühlte die Wärme des Körpers, spürte, wie sie ruhig wurde und die Angst von ihr wich.
    „Ich heiße Mina“, flüsterte sie, und die Katze miaute und schnurrte als Antwort. Mina wusste, dass sie hier unten in der Dunkelheit einen Freund gefunden hatte.
    Mit der Katze an ihrer Seite ging sie weiter. An einigen Stellen waren die Tunnelwände abgebröckelt. Felsgestein und Backsteine lagen zu unordentlichen Haufen aufgeschichtet. Sie stellte sich die Welt da oben vor und die ständig dicker werdende Schicht aus Erde, Steinen, Schlamm, Knochen und Wurzeln zwischen sich und der Welt. Sie stellte sich vor, der Tunnel würde einstürzen und sie begraben, wie es früher oft den Grubenarbeitern widerfahren war.
    Dann erreichte sie einen Wassergraben, der quer über den Weg verlief. Im schwachen Licht der schwankenden Glühbirne sah sie das Wasser hinwegrauschen. Mina hielt den Atem an. Sie streichelte die Katze. Dies musste der Fluss sein, den auch Orpheus hatte überqueren müssen, der Fluss zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten. Plötzlich zuckte die Katze zurück. Mina hörte ein Knurren, und auf der anderen Seite des Flusses glühten zwei Augen auf.
    Das, dachte Mina, ist das Ungeheuer, der Wächter der Unterwelt, den Orpheus hatte zähmen müssen. Es kam näher und näher und entpuppte sich als ein zotteliger, gedrungener Hund, der sie über den Graben hinweg anknurrte.
    Mina ging in die Hocke. Sie streckte dem Hund eine freundliche Hand entgegen und fing mit zitternder Stimme an zu singen, genauso wie Orpheus es vor so langer Zeit getan hatte.
    Leg dich zur Ruh, mein Herz, und leise,
damit die Äuglein du schließen kannst,
sing ich ein Lied, eine sanfte Weise,
das Wiegenlied des Kohlenmanns.
    Glück auf!, Glück auf!, Glück auf!, mein Herz.
Träum süß, träum süß, träum süß, mein Herz.
vergiss des Tages Müh.
    Das Knurren des Hundes wurde leiser. Die Katze kehrte zu Mina zurück. Mina sang weiter, und der Hund legte sich hin, als wollte er schlafen. Mina schaute den Tunnel entlang, der sich endlos zu erstrecken schien. Sie wollte das Wasser gerade überqueren, als jemand laut rief.
    „Jasper!“
    Der Hund stand auf. Die Ohren zuckten. Er knurrte.
    „Jasper! Wo zum Teufel steckst du?“
    Weiter unten im Tunnel bewegte sich ein Schatten, ein tiefdunkler Schatten in Form eines Mannes.
    „Jasper!“
    Der Hund wandte sich ab und trottete auf den Schatten zu.
    „Wer ist da?“, wollte der Schatten wissen. Es war eine tiefe, grausam klingende Stimme, die von den Tunnelwänden widerhallte. „Ist da jemand? Zeig dich, wer immer du bist!“
    Mina duckte sich. Sie schlüpfte wieder durch den Tunnel, den Weg zurück, den sie gekommen war, und versuchte, dabei kein Geräusch zu machen. Als sie einen Haufen Geröll und Backsteine erreicht hatte, richtete sie sich auf und fing an zu rennen.
    „Wer zum Teufel ist da?“, schrie die Stimme des Schattens. „Was bist du? Was willst du hier unten?“
    Mina rannte weiter, stolperte und stützte sich an den Wänden ab, um nicht den Halt zu verlieren. Der Hund bellte und der Schatten schrie ihr nach. In Minas Geist waren dies die Stimmen der Toten und das Brüllen des Wächters. Sie hörte schwere, trampelnde Schritte hinter sich. Dann erreichte sie die uralten, verfallenen Stufen, stieg eilig hinauf und schob sich durch das Eisentor hinaus ins Sonnenlicht. Das Tor drückte sie hinter sich wieder zu.
    Die schwarze Katze tauchte in den Rhododendronbüschen auf, und auch Mina zwängte sich durch das Dickicht. Die Männer lagen immer noch auf dem Rasen, aßen belegte Brote und lasen Zeitung, als ob nur wenige Augenblicke vergangen wären, seit sie in die Unterwelt abgetaucht war. Wieder beachteten die Männer das Mädchen kaum, das an ihnen vorbeiging. Minas Herz
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