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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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so gab der Seifritz-Bauer auch gut eine Woche nach dem Verschwinden ­Jakobs keine Vermisstenanzeige auf. Und so leitete der Bürgermeister auch keine Suchaktion ein. Und so wurde die Gendarmerie nicht eingeschaltet. Und so tranken sie einen Schnaps miteinander. Und weil auf einem Bein schlecht stehen ist, noch einen.
    »Prost«, sagte der Bürgermeister.
    »Prost«, sagte der Seifritz-Bauer.
    Nur scheinbar ihren altgewohnten Lauf nahmen die Dinge am Huber-Hof, an dem die Bauersleute, obgleich sie es voreinander nicht zugaben, ihren Knecht vermissten. Der Bauer, weil er selbst nun wieder all die harte, widerwärtige und schmutzige Arbeit verrichten musste, für die bis vor Kurzem Jakob hatte herhalten müssen. Und die Bäuerin, weil ihr schlicht die Gegenwart des Burschen fehlte. So kam es, dass am Huber-Hof in diesen Tagen wieder öfter gemurrt, geraunzt und genörgelt wurde. Es war wie früher, vor Jakobs Zeit.
    Am Lagler-Hof, dessen Nebengebäude und dessen Stall Opfer der gelegten Flammen geworden waren, entschied man sich für die Vorzüge oberflächlicher Normalität und gegen die Nachteile tiefschürfenden Nachsinnens. Was würde es schon bringen, sagte sich die Bäuerin, die Schuld ihres Buben Kurt, des letzten Menschen, den sie noch hatte, an die große Glocke zu hängen. Alles würde doch nur noch schlimmer. Was an Erinnerung blieb, waren stumme Mahnmäler, waren die verkohlten Reste des östlichen Hof-Traktes und zwei neue Inschriften am Grabstein der Familie. Der Lagler Kurt indes ging nun doch nicht in die große Stadt, denn die Versicherung zahlte nicht. Stattdessen arbeitete er mit hartem Gesicht und leeren Augen an der Wiederherstellung des Hofes, von dem er und sein toter Bruder nicht mehr gewollt hatten, als ihn hinter sich zu lassen. Jeder Handgriff am verhassten Gehöft erinnerte Kurt daran, dass er den verbrannten Großvater auf dem Gewissen hatte, und seinen Bruder, der sich im Wald aufgeknüpft hatte. Sprechen konnte er darüber mit niemandem, schon gar nicht mit der Mutter. Das Geschehene wurde von den beiden unter der Oberfläche gehalten – und musste folglich in die Tiefe wachsen, also in ihre Seelen. Denn irgendwohin drängt sie immer, sucht sie sich immer ihren Weg, die Wahrheit.
    Die für alle wahrnehmbarste Veränderung ging woanders vonstatten. Sie ging von zwei Menschen aus, von denen es in Legg alle am wenigsten erwartet hätten: den Seifritz-Groß­eltern. Schon am Tag, nachdem sich ihr Sohn über Silvia hergemacht hatte wie ein räudiges Tier, schon am Tag, nachdem ihr Sohn splitternackt und blutverschmiert im Dreck gefunden worden war, hatten die beiden Alten beschlossen, ihr Testament zu ändern.
    Silvia sollte zu diesem Zweck einen Brief zum Postamt bringen. Als Botin wurde sie gewählt, weil ihren Brüdern nicht über den Weg zu trauen war. Zu sehr waren Hans und Fritz ihrem Vater hörig. Es dauerte eine Weile, bis Silvia auch nur dazu gebracht werden konnte, einen Spalt weit die Kammertür zu öffnen. Als sie die Großmutter aber den Inhalt des Briefes Wort für Wort lesen ließ, brauchte es keine Überredungskunst mehr. Silvia rannte die Strecke vom Hof zum Postamt derart rasch, dass die Großeltern anfangs dachten, sie sei gar nicht dort gewesen.
    Ein paar Tage später staunten die Bewohner Leggs nicht schlecht, als der Wagen des Notars vorfuhr, am Seifritz-Hof. Der Notar, der eigens hier heraus gekommen war. Von der Bezirkshauptstadt eigens nach Legg. Und weil der Notar zwar weltgewandt war, aber nicht ortskundig, und deshalb einige Male hatte nachfragen müssen, wie er denn nun zum Seifritz-Hof komme, wusste halb Legg schon vor dem Eintreffen des Wagens am Hof, dass etwas Besonderes im Gange war. Etwas, das es lohnte, Augen und Ohren offen zu halten.
    Mit elegant schnurrendem Motor rollte der dunkle Wagen auf das Gehöft zu. Blank poliert war er. Und unter den sauberen Reifen knirschte der Sand. Knapp bevor das Fahrzeug zum Stehen kam, fügten sich, schmatzend und saugend, Kuhdung und Hühnerdreck ins Profil. Der Notar war an seinem Ziel angelangt.
    Der Seifritz-Bauer, der auf den Wagen zugewackelt war mit nach wie vor schmerzverzerrtem Gesicht (seine großflächige Wunde im Schritt war wieder eitrig aufgebrochen), wollte den fein gekleideten Herrn, der mit skeptischem Blick dem noblen Auto entstiegen war, postwendend wieder fortschicken. Als der Notar keinen Willen erkennen ließ, kehrtzumachen, sprach der Bauer von einem Missverständnis. Ganz sicher sei hier am Hof
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