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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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verstört. Dann aber musste sie lachen. »Bevor du dein Mädchen eroberst«, sagte sie, und schlug mit den Handflächen auf ihre Oberschenkel, »müssen wir ohnehin noch eine Kleinigkeit erledigen.«
    »Was denn?«
    »Dir die Gewehrkugel aus der Schulter rausschneiden.«
    »Was?«, krähte Jakob, »Ich habe geglaubt, das hast du längst gemacht! Ich habe doch zwei Tage lang durchgeschlafen, nachdem du mich gefunden hast. Da wäre doch Zeit genug gewesen!«
    »Nein«, sagte die Alte knapp. »Da ging es nicht. Der Mond stand nicht gut.«
    »Der Mond stand nicht gut«, wiederholte Jakob, ebenso fassungslos wie verblüfft, und ließ die Schultern hängen.
    »Jetzt tu nicht so verdattert. Es wird schon nicht so schlimm werden«, lachte sie. »Und wenn wir die kleine Schnipselei hinter uns haben, dann verrate ich dir das Geheimnis der Frauen. Und auch alles«, sie setzte ein vielsagendes Gesicht auf, »auch alles, was du über ihre Verführung wissen musst.«
    Mit einem Mal war der Gesichtsausdruck des Burschen wieder erhellt. Mit einem Mal strahlte er. Bis über beide Ohren, übers ganze Gesicht.
    »Der Mond ist in allem Wässrigen wirksam«, murmelte die alte Frau, als sie sich daran machte, Feuer zu entfachen, um den Eingriff vorzubereiten. »Nimmt der Mond zu, werden die Säfte von Menschen, Tieren und Pflanzen aktiv und steigen nach oben. Früchte bilden sich, Blüten treiben aus. Nimmt der Mond aber ab, atmet alles Leben wieder aus, Kraft und Energie sinken dann nach unten. Es ist eine ganz einfache Regel. Darum solltest du alles, was unter der Erde wächst, bei abnehmendem Mond ernten. Und alles, was über der Erde wächst, bei zunehmendem Mond. Verstehst du jetzt, warum ich dir die Kugel noch nicht herausschneiden konnte?«
    Jakob hatte sich zwar eine ungefähre Ahnung davon zurechtgezimmert, was sie ihm eben vermitteln wollte, aber für eine Antwort reichte es bei weitem nicht.
    »Nein«, sagte er.
    Ohne ein Zeichen der Enttäuschung fuhr sie fort: »Es ist ganz einfach. Als ich dich fand, nahm der Mond noch zu. Dein Blut war also wach, atmete nach oben, war aktiv. Nun aber, da der Mond abnimmt, sinken nicht nur die Säfte der Pflanzen. Auch dein Lebenssaft ist ruhig. Wenn ich heute Nacht dein Fleisch öffne, wird also nur wenig Blut aus deinem Körper treten. Verstanden?«
    »Ja«, sagte Jakob.
    Die Großmutter fuhr mit dem Weidenstecken hin und her. Dessen Enden hatte sie mit einem Spagat zusammengebunden, sodass ein Bogen entstanden war. Um den gespannten Spagat war ein pfeilgerader, trockener Buchenstecken gefädelt. Der sauste, geführt vom Bogen, in senkrechter Position um die eigene Achse. Die Spitze des Steckens rieb gegen das darunterliegende, eingekerbte Holz, erzeugte Hitze inmitten des angehäuften Strohs. Während Jakob energisch an der bitteren Wurzel kaute, die er von der Alten bekommen hatte, beobachtete er, wie aus dem Stroh ein dünner Faden Rauch stieg. Rasch wurde er breiter. Es dauerte nicht lange, und eine Flamme züngelte empor.
    Nachdem die Silberhaarige ein ansehnliches Feuer gezaubert hatte, wurde Jakob schwindlig. »Mir wird schwindlig«, sagte er und bemerkte, dass er lallte.
    »Wird auch Zeit«, sagte die Großmutter. »Zieh dein Hemd aus, leg dich dicht neben das Feuer, mit dem Bauch nach unten, und kau weiter an der Wurzel.«
    Als sie das lange, spitz zulaufende Messer in die Flammen hielt, begann sie zu singen. Es war ein rhythmischer, mantra­artiger Sing-Sang. Das Lied bestand aus nur einer Zeile. Einer Zeile, die sie variierte in Lautstärke und Ton, deren Rhythmus aber gleich blieb, auch, als Jakob das Bewusstsein verlor. Und auch noch Stunden danach.
    Die Nacht war ruhig. Nur etwas Wind kam von Norden auf. Er säuselte und rauschte leise in den Wipfeln der Bäume, ließ sie hin und her wogen, ein wenig nur.
    Als Jakob frühmorgens erwachte, lag eine Decke über seinem Körper. Neben ihm loderte das Feuer, gut einen halben Meter hoch. Er schlug die Augen auf, da ließ die Großmutter die letzte Zeile ihres Gesangs ausklingen. Jakob war sicher, dass sie die ganze Nacht über ihn gewacht hatte. Behutsam drehte er sich zur Seite, blickte in ihre Augen. Und dann verlangte er weder nach Wasser noch nach Essen, erkundigte sich nicht nach seiner aufgeschnittenen Schulter, wollte nicht wissen, ob alles in Ordnung war mit der Wunde, und erwähnte auch nicht den Schmerz, den er verspürte. Das Erste, was Jakob sagte, als er an diesem Morgen erwachte, war: »So, und jetzt erzähl mir, wie
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