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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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gesagt, »wenn noch der Tau auf ihnen liegt. Wenn du sie pflückst, komm deshalb rechtzeitig, denn nur die ersten Strahlen der Morgensonne bringen die Tränen der Nacht zum Vorschein.« Ich habe genickt, und schon ist ihr die nächste Idee gekommen. »Zieh dein Hemd aus, ich will Morgentau auf deine Wunde geben.«
    Ich habe mich zwar über die Art gewundert, wie sie mit meiner Verletzung umgegangen ist, aber eines muss ich zugeben: Noch am selben Abend war der Schmerz in meiner Schulter verflogen, und die Wunde ist rasch verheilt.
    In den nächsten Tagen hat mich meine Großmutter ständig in Bewegung gehalten. Meine Beine und Arme genauso wie meinen Kopf. Unablässig sind wir auf Streifzüge durch den Wald gegangen, hat sie auf mich eingeredet, mir Pflanzen und ihre Eigenschaften erklärt, mich in der Deutung und Vorhersage des Wetters unterrichtet, mir beigebracht, wie die Spuren der Waldtiere zu lesen sind, mir gezeigt, wie sie am besten zu jagen und zuzubereiten sind, mir erzählt, was aus Träumen zu erfahren ist, und, und, und. Ihr Wissen war unendlich. Und auch ihr Bemühen, es mir Stück für Stück zu schenken. Sicher hat sie gespürt, dass ich nicht mehr lang bei ihr bleibe, und ich glaube, es hat sie ein bisschen traurig gemacht, so wie mich. Ich war wieder bei Kräften, und alles in mir hat sich nach Silvia gesehnt. An dem Abend, an dem ich meiner Großmutter habe sagen wollen, dass ich zurückgehen müsse, um nach meiner Milchblume zu sehen, ist sie mit raschen Schritten auf mich zugekommen, hat mich mit beiden Händen an den Schultern genommen, so energisch, dass ich erschrocken bin, und dann hat sie gesagt: »Es ist Zeit, dass du gehst. Morgen wirst du mich verlassen.«
    Verlegen habe ich genickt. Und sie hat gelächelt. Dann hat sie mir den Rücken zugewandt, sich zum Feuer gebückt und gemeint, dass es ratsam sei, vor meinem Aufbruch noch ein Taubad zu nehmen. Das würde mir die Frische und Kraft geben, die nötig sei. »Denn schließlich«, hat sie betont, ohne das Hantieren am Feuerplatz zu unterbrechen, »schließlich kann Frische und Kraft nicht schaden, wenn ein junger Mann an den Ort zurückgeht, an dem dank seines Willens fortan alles anders sein wird für ihn.«
    Ich habe geglaubt, meine Großmutter würde mir in dieser Nacht noch Ratschläge geben, mir sagen, wie ich mich am besten verhalten solle, wenn ich nach Legg zurückkehrte, wenn ich zum ersten Mal wieder auf den Seifritz-Bauern träfe, den Bürgermeister, den Pfarrer und all die anderen. Ich habe auch erwartet, dass sie mich vor mir selbst warnen, mir einschärfen würde, nicht den Fehler meines Vaters zu machen. Dass sie mir raten würde, den Menschen, die mir so viel angetan haben, nicht mit Hass zu begegnen. Weil doch die Gefahr beim Hassen ist, dass man, sobald man einmal damit angefangen hat, mehr davon bekommt, als man eigentlich wollte. All das und mehr, habe ich mir ausgemalt, wird meine Großmutter mir mit auf den Weg geben. Doch nichts von alldem hat sie gesagt. Und ich glaube, ich weiß warum: Sie hat gewusst, dass es nicht nötig war, hat an meinen Augen abgelesen, dass ihre Ratschläge und Warnungen schon in mir waren. Und deshalb war das Einzige, worauf sie diese Nacht alle Zeit verwendet hat, die Einweihung in die Kunst des Tau­bades. Nur darüber haben wir gesprochen, über sonst nichts.
    Gegen Mitternacht hat sie mich ein letztes Mal abgefragt, hat sich versichert, dass ich mir auch alles eingeprägt hatte. Und dann hat es diese kleine, drahtige, alte Frau wieder einmal geschafft, mich zu verblüffen.
    »So, und jetzt geh«, hat sie gesagt.
    Ich habe nicht glauben können, was ich gerade gehört hatte. Es war mitten in der Nacht. Im Wald war es fast stockdunkel. Nur der Mond hat ein wenig nebelig-weiches Licht durch die Baumwipfel geworfen.
    »Was, jetzt soll ich gehen?«, habe ich gefragt. Und sie hat seelenruhig gemeint: »Freilich jetzt. Du willst doch bei Dämmerung neben deinem Taubad in der Nähe der Bachlichtung erwachen, so wie es die alte Lehre verlangt.«
    Was ist mir übrig geblieben, ich bin losmarschiert. »Immer Richtung Mond«, hat sie mir nachgerufen, als ich mich mit einem Brummen davongemacht hab.
    Die kleine Lichtung beim Bach habe ich gleich gefunden. Im Schein des Mondes bereitete ich mein Bad vor, wie das Ritual es vorschreibt. Als alles fertig war, habe ich mich am Waldrand ins trockene Moos gelegt.
    Am nächsten Tag bin ich genau im richtigen Moment aufgewacht, vor dem Aufleuchten der ersten
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