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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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man ein Mädchen für sich gewinnt.«
    Die Alte lachte. »Gut«, sagte sie. »Ich werde dir das Gesetz des Verführens verraten.«
    Jakob riss die Augen auf, und seine Großmutter begann mit ruhiger Stimme zu sprechen: »Es gibt nur eine Regel. Bevor du über deren Kürze enttäuscht bist, weil du daraus schließt, dass sie dir zu wenig verrät, bedenke zuvor noch einmal ihren Sinn; überlege dir, was dahinter steckt. Die Regel lautet«, sagte sie und zelebrierte die nächsten Worte in aller Langsamkeit: »Frauen wollen Männer.«
    Jakob starrte sie an.
    »Das ist es?«, rief er.
    »Ja, das ist es.«
    »Dafür«, japste er, »dafür habe ich mir die Schulter aufschneiden lassen?«
    Die Großmutter konnte ihre Heiterkeit über seinen Gesichtsausdruck kaum zurückhalten. Doch dann besann sie sich und wiederholte: »Frauen wollen Männer. Das ist die Wahrheit. Mehr gibt es dazu einfach nicht zu sagen.«
    Jakob war bereit, über den tieferen Sinn dieser drei Wörter nachzudenken, dieser drei Wörter, die seine Großmutter so vielsagend ausgesprochen hatte, deren Nutzen er aber beim besten Willen nicht erfassen konnte. Gerade, als zumindest der Funke einer Ahnung durch seinen Geist stob, setzte die Alte fort.
    »Ebenso beruhigend wie das Wissen über diese ewige Wahrheit, ist die zweite Tatsache, die es über das Gewinnen und Verführen einer Frau gibt«, sagte sie, und dabei bekam die faltige Landschaft ihres Gesichts schelmische Züge. »Ihr Männer«, sie schüttelte den Kopf, »ihr Männer überschätzt eure Bedeutung. Auch bei dieser Angelegenheit. Ihr glaubt, es ist an euch, uns zu verführen mit hoher Kunst, mit verwegenem Lächeln, mit geschwellter Brust und tiefem Ton. Doch ich verrate dir etwas, Jakob: In Wirklichkeit sind wir es, wir Frauen, die längst entschieden haben, welchen Mann wir uns wählen, welchen fürs Leben und welchen fürs Abenteuer. Wir beobachten nur noch, wie ihr es anstellt, uns zu verführen. Uns bleibt nur noch das Vergnügen, euer sehnliches Drängen zu genießen, euer aufwendiges Werben, das wir selbst provoziert haben, freilich ohne dass euch das so recht bewusst geworden ist. Euren Bemühungen geben wir schließlich nach, wenn ihr halbwegs geschickt vorgeht. Oder wir erbarmen uns eurer rasch genug, bevor unsere Lust verfliegt wegen eurer Tollpatschigkeit. Kurzum, Jakob: Silvia hat dich längst zu ihrem Mann gemacht. Du musst nur noch auf sie zugehen.«
    ***
    »Und nun tun wir deinem Körper etwas Gutes«, hat meine Großmutter gesagt, am frühen Morgen, nachdem sie mir die Gewehrkugel mit ihrem alten Brotmesser aus meiner Schulter gemergelt hat. Und weißt du, was sie dann gemacht hat? Weißt du, was sie gemeint hat, als sie von »etwas Gutem« für meinen Körper gesprochen hat? Ihre qualmende Pfeife hat sie gemeint. »Du musst den Rauch in deine Lunge strömen lassen, lang und tief«, hat sie mir erklärt. Es sei Zigeunertabak. Getrockneter Huflattich, gemischt mit Salbeiblättern, Lobelie und Thymian. Weil das gar nicht so schlecht geklungen hat, habe ich einen tiefen Zug aus dem abgebissenen Pfeifenstiel gemacht und dann war mir, als würden brennende Pfeile durch meine Brust schießen. Ich habe geglaubt, ich müsse all meine Sünden abbüßen und meine Lunge in tausend Stücken in den Wald husten. Meine Großmutter hat nur gelacht und gemeint: »Am Anfang ist es ein bisschen ungewohnt. Aber du wirst sehen, die Pfeife vertreibt jede Krankheit.« Dass ich überhaupt nicht krank bin, hat sie nicht hören wollen.
    Kaum habe ich mich von ihrer Medizinpfeife halbwegs erholt, hat sie unternehmungslustig in die Hände geklatscht, ist aufgesprungen und hat gesagt: »So, jetzt ist es aber höchste Zeit, zur Bachlichtung zu gehen.«
    Nach vielleicht zehn Minuten zügigem Marsch durchs morgendliche Halbdunkel waren wir dort. Sie hat sich auf ihre Fersen gesetzt, auf ein Dutzend kreisförmige, in spitzen Blättern zulaufende Pflanzen gezeigt und gesagt: »Trink.« Zufrieden war sie erst, als ich alle Kelche ausgeschlürft hatte. »Was du gerade zu dir genommen hast«, hat sie erklärt und mit der flachen Hand über die wippenden Pflanzen gestrichen, »das waren Himmelstropfen. Du findest sie bei Sonnenaufgang. Und nur in den Blattkelchen des Frauenmantels. Es ist heiliges Wasser. Wasser des Bodens, das der Frauenmantel über seinen Kelch veredelt und geläutert abgibt.« Dann hat sie mir noch von einer anderen Form von besonderem Wasser erzählt: dem Tau. »Pflanzen haben mehr Kraft«, hat sie
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