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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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Legg hatte sich während seiner Abwesenheit einiges zugetragen. Das war nicht selbstverständlich, denn in einem Flecken wie diesem konnte es durchaus vorkommen, dass längere Zeit hindurch nichts geschah. Diesmal aber hatten sich die Ereignisse – zumindest an den üblichen Legger Verhältnissen bemessen – förmlich überstürzt.
    Der Pfarrer etwa hatte eifrigen Kontakt mit dem Bürgermeister. Händeringend erinnerte er ihn daran, dass damals, er wisse schon, als diese unselige Geschichte geschehen sei mit den Zigeunern, dass sich damals die Älteste der Sippe ja im Eigenwald verkrochen habe. Vielleicht, gab der Pfarrer mit gefalteten Händen und bewegter Miene zu bedenken, sei es ja doch ein Fehler gewesen, ihr damals nicht nachzustellen und sie ganz davonzujagen aus der Gegend. »Der Teufel schläft nicht«, verwies er auf andere Mächte und bemerkte es erst, als es seinen vernarbten Mund verlassen hatte. Jedenfalls, fuhr er fort, wisse man ja nie. Eventuell lebe die Alte ja wirklich noch, irgendwo, tief drinnen im Wald, und Jakob sei womöglich über sie gestolpert. Und jetzt, klagte der Pfarrer, plötzlich in weinerlichem Ton, jetzt wisse er vielleicht alles vom Tod seiner leiblichen Eltern, wisse womöglich von seiner »wahren, schmutzigen Herkunft. Und all die gute katholische Erziehung ist für die Katz gewesen.«
    »Vielleicht, womöglich, unter Umständen«, reagierte der Bürgermeister schroff. »Und von wegen alte Zigeunerin, so ein Blödsinn! Ist doch nur Altweibergeschwätz!« Der Pfarrer ging ihm auf die Nerven. Doch dann besann sich der Bürgermeister seiner geistigen Überlegenheit und verlieh seiner Stim­me einen versöhnlichen, beinahe vergnügten Ton: »Wahr­schein­lich machen wir uns ganz unnötig Sorgen und unser Jakob gönnt sich nur ein paar Tage Ruhe im Wald.« Mit hochgezogenen Brauen linste der Bürgermeister zum Pfarrer, auf dessen Reaktion wartend, und in der Hoffnung, dass er nun Ruhe geben würde.
    »Und was ist«, meldete der Pfarrer nach ein paar Sekunden Stille neue Bedenken an, »wenn Jakob nun doch alles erfahren hat und er die ganze Sache von damals an die Öffentlichkeit bringt?«
    Der Bürgermeister schüttelte sich vor Verblüffung. »Jakob?«, rief er in hohem Ton, »Unser Narr Jakob? Was soll der denn an die Öffentlichkeit bringen? Und außerdem: Wir haben ja nichts verbrochen!«
    Nach seiner Unterredung mit dem Pfarrer ärgerte sich der Bürgermeister über seine Gedanken. Er hatte sich vom Pfarrer einen Floh ins Ohr setzen lassen: Was würde wirklich passieren, wenn Jakob plötzlich in der alten Geschichte zu wühlen anfinge und sie lauthals herumerzählte? Lästig wäre es allemal, ganz lupenrein war die Sache damals ja nicht, überlegte er und versuchte, sich selbst zu beruhigen: »Obwohl, rein offiziell betrachtet, hat ja alles seine Richtigkeit gehabt. Quasi.«
    Weil ihm nichts einfiel, um das belastende Gefühl loszuwerden, das ihn noch immer quälte und das langsam drohte, seinen ganzen Tag unleidlich verlaufen zu lassen, entschied sich der Bürgermeister für einen Besuch beim rekonvaleszenten Seifritz-Bauern. Etwas hinkend, mit schiefer Körperhaltung und einbandagiertem Gesicht kam der ihm entgegen.
    »Und?«, begrüßte der Bürgermeister ihn, »Zahlt die Versicherung für deinen Unfall mit der Häckselmaschine?« Obwohl jeder wusste, was tatsächlich am Hof vorgefallen war, und wie die Verletzungen des Bauern zustande gekommen waren, verzog der Bürgermeister keine Miene, als er sich derart nach dem Stand der Dinge erkundigte.
    »Weißt eh«, antwortete der Seifritz-Bauer, lispelnd wegen der eingeschlagenen Zähne, und ganz so, als glaube er bereits selbst an die neue Wahrheit, »die von der Versicherung sind alles Halsabschneider, drücken sich jedes Mal, wenn es einen Schaden gibt und sie was zahlen sollen.«
    »Ja, ja«, sagte der Bürgermeister und tat eine Handbewegung, »sind alles gemeine Lumpen.«
    »Du, was anderes«, fragte er nach einer Pause. »Gibt’s was Neues vom Jakob? Ist er schon wieder zurück?«
    »Nein«, antwortete der Bauer und drehte seinen Körper zur Seite, »der drückt sich vor der Arbeit.«
    Wenn zwei aus demselben Holz geschnitzt sind, braucht es zwischen ihnen nicht viele Worte. Und so kam es, dass sich der Seifritz-Bauer und der Bürgermeister rasch einig waren, wie sie in der unseligen Angelegenheit vorgehen wollten. Das Wichtigste sei vorerst, weder Anstand noch Nerven zu verlieren. Nur kein unnötiges Aufsehen also. Und
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