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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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später habe ich am Nutzen meines Herumtrippelns zu zweifeln begonnen und bin noch giftiger geworden. Als dann wegen des Stricks um meinen Hals und meines gebückten Körpers die Rückenschmerzen dazugekommen sind, habe ich einem nervig neben mir gackernden Hendl einen Schlag mit dem Stock versetzt. Verblüfft bin ich stehen geblieben. So einfach können die Dinge sein! Rasch bin ich zurück zum Haus. Im Eifer hat es mich beinahe über die Türschwelle geschmissen. Aufgeregt habe ich an die Kammertür der Alten geklopft. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie endlich verstehe, und dass sie kein schlechtes Gewissen haben muss wegen der Hendln, wo sie ja doch im Sterben lag und sich die Menschen, wenn es dem Ende zugeht, plötzlich so viele Gedanken über die Rechtschaffenheit ihres Lebens machen. Sie hat nicht geantwortet. Ich bin trotzdem rein. Ich habe gedacht, sie schläft oder hört mich nicht. Erst als ich an ihr gerüttelt hab, habe ich gemerkt, dass sie tot ist. In dem Moment ist irgendwo am Hof eine Tür zugefallen. Ich habe mich umgedreht und da ist schon der Huber-Bauer hinter mir in der Stube gestanden und hat mich mit offenem Mund angestarrt. Ich habe »Grüß Gott« gesagt und wollte ihm erklären, was ich in der Stube seiner Mutter mache, warum ich ihre Kleider anhab, dass ich jetzt weiß, warum sie immer nach den Hendln gedroschen hat, und dass sie leider tot ist. Für den Moment waren das aber viel zu viele Sachen, und so habe ich nur noch ein zweites Mal »Grüß Gott« gestammelt. Der Huber-Bauer hat schrecklich losgebrüllt und ist auf mich zugestürzt wie ein Stier. Er war sicher aufgeregt, weil ich das Kopftuch seiner Mutter umgebunden gehabt hab, meine Unterarme aus ihrer viel zu engen Wollweste geragt sind, ich mich in gebückter Haltung auf ihren Gehstock gestützt habe und meine Beine nur unzureichend von ihrem Rock verdeckt worden sind. Und das an einem Sonntag, dem Tag des Herrn. Jedenfalls hat mich der Huber-Bauer aus dem Haus geprügelt, und diesmal hätte ich mich wegen der Stricke um den Hals und die Füße nicht einmal wehren können, selbst wenn ich gewollt hätte.
    Zu allem Verdruss hat mir der Huber-Bauer noch lange Zeit danach vorgehalten, dass ich es gewesen sei, der seiner Mutter den Rest gegeben habe, der sie unter die Erde gebracht habe, ihr Sargnagel gewesen sei. Für die Tratschweiber im Dorf bin ich heute noch der Mörder der Alten. »Pfui Teufel!«, kreischen sie, wenn ich ihnen über den Weg laufe, und dann spucken sie nach mir, als wäre ich der Leibhaftige.
    Bereut habe ich das Ganze trotzdem nicht. Wenn man den Dingen auf den Grund gehen will, muss man eben damit rechnen, dass Außergewöhnliches an die Oberfläche kommt und dass manche kein Verständnis dafür aufbringen. Einmal ist sogar auf mich geschossen worden. Das war, als ich auf der großen Bachwiese rückwärts gegangen bin, um herauszufinden, wie sich dadurch die Dinge verändern. Ich glaube, wenn der Bürgermeister oder der Wirt alleine am Hochstand gesessen wäre, keiner der beiden hätte auf mich geschossen. So aber wollten sie einander wahrscheinlich imponieren. Und dann haben sie auf mich geschossen, obwohl sie es vielleicht gar nicht wollten. Ich glaube, so wie sie verstellen sich viele, einfach um andere zu beeindrucken, um geachtet zu werden, wenn schon nicht gemocht. Aber du merkst, ich denke schon wieder viel zu viel nach. Und vielleicht rede ich mir das alles ja auch nur ein. Vielleicht ist nicht einmal auf mich geschossen worden. Damals hat es mir jedenfalls niemand geglaubt. Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr zweifle ich selbst daran. Das ist das Teuflische: Die Wahrheit verändert sich im Kopf. Und je mehr Menschen sich mit der Wahrheit beschäftigen, desto weniger ist sie wiederzuerkennen. Sie teilt sich, verändert sich, wird eine ganz andere. Eigentlich müsste sie dann auch ihren Namen ablegen, die Wahrheit. Aber das tut sie nicht.
    Das Einzige, was ich heute mit Sicherheit weiß, ist, dass mich der Bürgermeister und der Wirt damals zum Hof meines Vaters gebracht haben. Sie haben zwar gewusst, dass mein Vater nichts von mir hören und sehen will. Aber was ist ihnen schon anderes übrig geblieben? Dass meine Eltern nicht viel auf mich halten, hat sich schon früh gezeigt. Der Huber-Bauer hat mir einmal von einem Kartenabend mit meinem Vater erzählt. Mitten im Spiel sei der damalige Knecht meines Vaters ganz außer sich in die Stube gestürzt und habe geschrien, dass er mich im
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