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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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hatte.
    ***
    Mein Name ist Jakob. Aber die Menschen im Dorf sagen meist Idiot zu mir. Oder Schafskopf. Manchmal auch Trottel, Verrückter, Hornochs. Oder einfach nur Depp. Das finde ich noch am nettesten, Depp. Jedenfalls halten sie mich für schwachsinnig.
    Die meiste Zeit verwenden die Leute darauf, sich über mich lustig zu machen. Das ist nicht angenehm, hat aber auch was Gutes: Damit verscheuchen sie ihre Traurigkeit und ihre Langeweile. Zumindest für kurze Zeit. Wenn sie Ärger auf Gott und die Welt haben, also auf sich, schaffen sie sich Erleichterung, indem sie mich anrempeln, mir Kopfnüsse verabreichen, und manchmal verdreschen sie mich auch. Ich könnte mich wehren gegen sie. Ich bin zwar nicht groß, dafür sehnig und ziemlich stark. Aber immer wenn ich knapp davor bin, ihnen eins zu verpassen, springt in meinem Inneren ein Gefühl auf und ab, dass es nicht recht ist, sie zu schlagen, und dass ja eigentlich nichts so wichtig sein kann, um dafür jemand anderem weh zu tun. Dieses Gefühl ist ziemlich blöd. Es führt dazu, dass ich oft grün und blau bin am ganzen Körper.
    Dabei sind die Menschen so liebesbedürftig. Da bin ich ganz sicher. Unser Nachbar, der Huber-Bauer, zum Beispiel. Den habe ich einmal dabei beobachtet, wie er mit einer seiner Kühe Liebe gemacht hat. Er hat sich den Melkschemel untergestellt, um hoch genug zu stehen, er ist ja nicht sehr groß, der Huber-Bauer, und als er fertig war, hat er den Hinterleib der Kuh ganz inniglich umarmt und seinen massigen Körper eine Zeit lang auf dem ihren ruhen lassen. »Liesl«, hat der Huber-Bauer dabei zufrieden geseufzt und die gescheckten Flanken des Tieres gestreichelt, »oh, meine Liesl!«
    Liesl, so hat die Kuh geheißen. Ich glaub, der Huber-Bauer hat sie sehr gern gehabt.
    Die meisten Menschen in Legg haben es gut, die müssen nicht viel denken. Ich habe den Kopf ständig voller Bilder und Ideen. Unaufhörlich purzeln sie in meinem Kopf herum. Das Allerschlimmste aber sind die Fragen. All die Fragen, die sich in meinem Schädel zusammenbrauen und immer komplizierter werden, je mehr ich darüber nachdenke. Ich mach das wirklich nicht absichtlich. Mir passieren die Gedanken über die Tiere und die Pflanzen, über den Mond, die Sonne und die Sterne am Himmel, und besonders über die Menschen und wie sie miteinander umgehen. Wenn man nicht aufpasst, glaub ich, macht das auf die Dauer wirklich wahnsinnig. Vielleicht haben die Leute recht, und ich bin es schon.
    Eine Frage verwirrt mich ganz besonders: Warum sind so viele Menschen böse zueinander, obwohl sich eigentlich alle danach sehnen, freundlich behandelt zu werden? Eine meiner wildesten Ideen ist, dass sie vielleicht genau deswegen so böse sind. Wegen ihres Wunsches nach Freundlichkeit und nach Liebe, und weil sie nie genug davon bekommen. Das macht sie so wütend. Oder traurig. Oder beides.
    Ich glaube, um andere Menschen wirklich verstehen zu können, ist es nötig, sich in sie hineinzuversetzen. Das ist nicht einfach, aber ich habe da einen Trick. Unsere Nachbarin, die alte Huber-Bäuerin zum Beispiel, war eine seelengute Frau. Aber wenn sie über den Hof gegangen ist, hat sie jedes Mal mit ihrem Stock nach den Hendln geschlagen. Einmal hat sie eines mit voller Wucht am Kopf getroffen. Es ist tot liegen geblieben. Und die alte Huber-Bäuerin hat nichts Besseres zu tun gehabt, als noch einige Male auf das Tier einzudreschen. Dann ist sie wortlos zurück in die Stube getrippelt und hat mit weichem, zufriedenem Gesicht beim Kochen geholfen. Ich habe die Angewohnheit der alten Huber-Bäuerin, die wirklich eine sehr, sehr freundliche Frau war, nie verstanden. Der Sache näher gekommen bin ich erst, als es fast zu spät war und die Alte schon im Sterbebett gelegen ist. An einem Sonntag, der Huber-Bauer und seine Frau waren in der Kirche, habe ich mich ins Haus geschlichen und mir die Sachen der Alten angezogen. Mit einem Strick habe ich meine Füße ganz eng zusammengebunden, damit ich nur noch so kleine Schritte habe machen können wie sie. In der Mitte des Stricks habe ich noch einen Strick befestigt und mir das andere Ende um den Hals gebunden. So habe auch ich nur tief gebückt gehen können. Dann habe ich mir ihren hölzernen Gehstock geschnappt und bin raus in den Hof, zu den Hendln.
    Die zusammengebundenen Füße haben das Gehen ziemlich mühsam gemacht, und obwohl ich es nicht eilig gehabt hab, ist bald Ärger in mir aufgestiegen, weil ich nicht rascher vo­rangekommen bin. Wenig
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